Die Rückeroberung der Straße

■ Autofreies Wohnen breitet sich aus / Großes Interesse am Modellversuch, während sich der Senat über die City-Verkehrsberuhigung streitet,

Das paßt: Heute streitet sich der Senat zum soundsovielten mal über die autofreie/autoarme/fußgängerfreundliche Innenstadt (Unzutreffendes bitte streichen), und seit gestern tagen ein paar Meter weiter StadtplanerInnen und VerkehrspolitikerInnen über eines der wenigen Bremer Projekte, das in der weiten Welt große Beachtung gefunden hat, das Modellprojekt „Wohnen ohne Auto“. Und Umweltsenator Ralf Fücks konnte es sich am Ende seiner einleitenden Worte auch nicht verkneifen, dem abwesenden Kollegen Jäger kräftig eins vors Schienbein zu treten: „Bremen ist auf dem Irrweg der autogerechten Stadt nicht ganz so weit gegangen, aber es gibt Kräfte, die das nachholen wollen.“ Aber während sich der Senat heftig über den rechten Weg streitet, bei der Tagung herrscht Interesse vor allem an einem: Wie baut man die Stadt ohne Auto?

Das Bauprojekt, das im Hollergrund entstehen soll, ist so bekannt, wie kaum ein zweites aus Bremen – und das in der ganzen Republik. Als der Bremer Hochschullehrer Thomas Krämer-Badoni zusammen mit einer Forschergruppe im Projekt „Leben ohne Auto“ sechs Familien untersuchte, die freiwillig für vier Wochen auf ihr Auto verzichten wollten, da brachte er einen Schneeball ins Rollen, der sich schon bald zur Lawine auswuchs. Die ist gemessen an der Automobilisierung der deutschen Gesellschaft noch winzig, aber immerhin: Schon nach kurzer Zeit meldeten sich Stadt- und VerkehrsplanerInnen aus vielen Städten, die Interesse am Folgeprojekt bekundeten. „Wir haben geglaubt, es geht nicht, und wollten wenigstens wissen warum“, erzählte Krämer-Badoni in seinem Einleitungsreferat über das erste Projekt. Dann allerdings stellte sich heraus: Es ging, das autofreie Leben, und ohne das Gefühl bei den Beteiligten, mit dem Auto auf Lebensqualität verzichten zu müssen. Da lag das Folgeprojekt auf der Hand: Die Rückeroberung der Straße durch den Menschen, Wohnen ohne Auto. Das Interesse, eine vollbesetzte Tagung, scheint den MacherInnen recht zu geben.

Neben allen ökologischen Begründungen – die Gesellschaft selbst entwickelt sich in einer Art und Weise, die das Modell höchst plausibel macht, argumentiert Krämer-Badoni. Die Lebensstile der Gesellschaft werden immer differenzierter, und dem muß die Stadt in Zukunft immer stärker Rechnung tragen, will sie den Anschluß nicht verpassen. Die These: Es müssen städtische Teilräume entstehen, die diesen ausdifferenzierten Lebensstilen gerecht werden. Und so ein Teilraum könnte am Hollergrund entstehen, das gesellschaftliche Bedürfnis in Gestalt der InteressentInnen, die sich schon massenhaft gemeldet haben, ist reichlich vorhanden. Nur sichtbar war es bislang nicht, weil sich Stadtplanung immer entlang der Maxime bewegt hat, daß jeder Punkt in der Stadt mit dem Auto erreichbar sein soll.

„Wer ohne Auto leben will, soll auch etwas davon haben können“ – das Bedürfnis danach artikuliert sich mittlerweile überall dort, wo die Diskussion über das autofreie Wohnen angestoßen ist. Für ein Wohnprojekt in Amsterdam, in dem 600 Einheiten entstehen sollen, hatten sich mehr als 6.000 Interessenten gemeldet. Auch wenn darunter etliche waren, denen die Autolosigkeit piepegal war – rund 4.000 echte BewerberInnen sind übriggeblieben. J.G.