Tanzen in dieser Art

Nicht einfach rumhopsen – intim sein, den Jazz-Spirit kriegen, Paare bilden! Empfiehlt Cassandra Wilson, die auf Tour kommt  ■ Von Werner Stiefele

Was darf der Jazz? Mindestens so viel wie die Satire (und was die alles darf, wissen wir ja...) „Macro Basic Array of Structured Extemporization“ (M-Base) ist also ein ziemlich logischer Name für ein Jazz-Forschungskollektiv, das in den Siebzigern in New York entstand. Von Anfang an mit dabei: Cassandra Wilson, Südstaatlerin, Ex-Folkblueserin und entschiedenste Antipuristin unter den jüngeren JazzerInnen. Funk, HipHop, Blues, Standards – mit allem hat sie gearbeitet, was sie nicht daran hindert, auf „Blue Light 'Til Dawn“, der LP zur Tour, Folk und Blues neu aufzuarbeiten.

taz: Wann waren Sie das erste Mal auf einer Bühne?

Cassandra Wilson: Das allererste Mal? Da war ich fünf. Kindergarten. Abschluß. Ich sang „Jesus Loves Me“. Meine Eltern sagten, ich habe lauter gesungen als alle anderen. Sie hätten sich fast geniert. Wie ich mich selbst dabei fühlte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß mir das Singen immer Spaß machte und ich schon als kleines Mädchen eigene Melodien schuf. Mich hat immer fasziniert, wie man Musik formen und verändern kann, wie man mit ihr Stimmungen schaffen und auf Menschen wirken kann. Als Kind verwechselte ich immer das Wort „Magic“ mit dem Wort „Musik“.

Wie kamen Sie ins Geschäft?

Ich denke, ich wurde reingeboren. Mein Vater war Musiker, und meine Mutter sang oft für mich. Seit ich mich erinnern kann, hatte ich mit Musik zu tun. Mit sechs lernte ich Klavierspielen, später Gitarre.

Sie leben jetzt in Harlem, in Sugar Hill. Als ich in New York war, hat man mir davon abgeraten, als Weißer nach Harlem zu gehen.

Das ist absurd. Ich weiß nicht, wer Ihnen das gesagt hat. Sie sollten überall hingehen, wohin Sie wollen. Solange, wie Sie sich wie ein Mensch aufführen, glaube ich nicht, daß es irgendwelche Probleme gibt. Ich gehe auch dorthin, wohin ich will. Zu mir sagten sie: Sei vorsichtig in Deutschland. Dort gibt es Neonazis und Skinheads. Meine Erfahrung war gerade andersrum, ich fand die meisten Leute ganz nett.

Ich wurde vor Schießereien auf der Straße gewarnt. Man hat mir gesagt, in Harlem gehe es wie im Krieg zu.

Der ganze Stadtkern von New York City ist Kriegsgebiet. Das kann Ihnen an der East Side oder an der West Side passieren. Uptown können Sie mehr Schüsse hören. Dafür gibt es politische Gründe. Es ist sehr leicht, an ein Gewehr zu kommen. Das Harlem von heute ist sicher nicht mehr das Harlem der vierziger oder dreißiger Jahre. Es hat noch ein bißchen Charme, aber man muß sich darauf einstellen, daß es auch die andere Seite hat. Ich mag zum Beispiel das Gebäude, in dem ich wohne. Es war die Heimat von vielen großen Musikern. Der Sänger Paul Robeson lebte dort. Er sprach 13 Sprachen! Es gibt viele gute Geister in dem Haus und in der Umgebung.

Paul Robeson war sehr stark mit der Arbeiterbewegung verbunden. Wie sieht es mit Ihrem politischen Engagement aus?

Ich bin nicht so aktiv wie Paul Robeson, aber ich bin auf meine eigene Art politisch. Mit meiner Arbeit spreche ich die offensichtlichen Ungleichheiten in der Gesellschaft an. Andererseits will ich hochhalten, was uns gehört und nach innen schauen.

Was heißt „uns“? Den Schwarzen?

Ja. Wir sollten es hochhalten. Wir sollten Geschichte, Religion und den Geist studieren und erfahren, wer unsere Vorfahren sind. Ich konzentriere mich von einem spirituellen Standpunkt aus auf Politik. Wenn man sich selbst und die eigene Spiritualität kennt, entwickelt man sich und gewinnt Power.

Das erinnert mich an ein Gespräch mit Wynton Marsalis. Er sagte, schon zur Jahrhundertwende hätten nicht alle Schwarzen zur Unterklasse gehört. Das europäisches Bild sieht oft nur eine schwarze Arbeiterklasse und die weiße Upper-Class.

In Amerika gibt es eine starke schwarze Mittelklasse und sogar eine Upper-Class. Mich fasziniert, daß die Afroamerikaner von der Sklaverei in den 1860ern dahin kommen können, wo wir heute sind – und das in einem Zeitraum von 130 Jahren. Stellen Sie sich vor, was es noch für Möglichkeiten gibt, wenn das in einer derart kurzen Zeit passieren konnte. Im Jazz gibt es viele Leute wie Wynton, die aus der bourgeoisen amerikanischen Mittelklasse stammen. Miles Davis und Dexter Gordon sind weitere Beispiele dafür.

Was haben Sie bei Ihrem ersten Besuch in Europa erwartet?

Nichts Genaues. Ich hatte Erfahrungen mit den amerikanischen Weißen und wußte, daß die Europäer wahrscheinlich anders sind. Aber ich hatte keine Ahnung, auf welche Art. Ich sagte mir, das sind Menschen, die zufällig in einem anderen Land leben. Sie weinen, sie haben Schmerzen, sie bluten. Sie machen dasselbe, was ich auch mache. Also: Wo liegt das Problem?!

Was war für Sie die größte Überraschung bei Ihrem ersten Besuch?

Ich hatte die Vorstellung, Deutschland etwa und die Deutschen seien engstirnig, würden sich immer noch für Herrenmenschen halten und seien – neben den Holländern – die größten Rassisten auf dem Planeten. Aber das war alles völlig falsch. Sicher gibt es Deutsche, die so denken, aber das gibt es auch bei den Amerikanern. Die Mehrheit, fand ich heraus, ist sehr warmherzig. Sie haben einen schärferen Ton und sie haben eine andere Vorstellung von Gastfreundschaft, aber man kann sie nicht nach unseren Vorstellungen messen, sondern muß sie innerhalb ihrer eigenen Bezugsgrößen sehen.

Was haben Sie als erstes gegessen?

Eine Spinat-Lasagne. Ich habe das in einem Pizzaladen bestellt. Im Hotel war nämlich das Restaurant geschlossen. Das hat mich geärgert, aber dann sah ich: Das ist ein Kulturunterschied. Im Süden, wo ich herkomme, gibt man jemand, der eine große Strecke gereist ist, als erstes etwas zu essen und Wasser. Anscheinend ist es in Deutschland üblich, daß die Restaurants in den Hotels zwischen Frühstück und Abend geschlossen sind, wenn man nicht in einem der großen Hotels ist, wo sie ein Restaurant 24 Stunden offenhalten können.

Sind Sie nervös, wenn Sie auf eine Bühne gehen?

Ja.

Wovor fürchten Sie sich?

Die größte Angst ist, daß mich die Inspiration verläßt. Wenn ich singe, macht sich eine Art von Besessenheit breit. Wenn ich Glück habe. Es geht um eine spirituelle Verbindung und darum, daß ich in der Lage bin, mich von allem so zu leeren, daß das, was geschehen will, auch geschehen kann.

Wer singt, wenn Sie „leer“ sind?

Das ist eine gute Frage! Wir wissen es nicht. Wer weiß? Vielleicht können Sie es mir sagen? Ich singe und frage mich auch: Wer ist das? Das Konzept des Ego ist etwas definitiv Westliches. Das „Ich“ als von allem anderen Losgelöstes. Ich weiß nicht, ob es unbedingt ein „Ich“ geben muß, wenn ich auf die Bühne gehe. Es ist jemand da. Ein Körper, der sich mit dem Publikum verbindet. Das „Ich“ geht weg, es kommt erst ins Spiel, wenn ich die Bühne verlasse. Dann gibt es ganz sicher eine Cassandra, die dies und das mag.

Wissen Sie vorher, was Sie machen werden?

Ich habe eine Vorstellung und ein Programm, aber ich weiß nicht, ob ich dem strikt folge. Ich mag es, wenn sich die Momente selbst schaffen. Manchmal geschehen Dinge auf der Bühne, die dich in eine andere Richtung schicken. Ich mag es, wenn ich genügend Flexibilität habe.

Sie wurden durch die M-Base bekannt. Gibt es die Gruppe noch?

Sicher. Wir sind immer noch sehr eng miteinander verbunden, auch wenn wir – was gut ist – verschiedene Richtungen einschlugen. Wir haben viel voneinander gelernt. Wir wollten die Musik unserer Kindheit in den Jazz einbeziehen, denn wir alle sind Produkte der sechziger und siebziger Jahre. Jazz verträgt keinen Stillstand, er muß sich entwickeln, dein Leben und die Zeit, in der du mit dieser Musik lebst, einschließen. Man kann die Meister nicht nur imitieren, denn damit verstieße man gegen ihren Geist, der etwas mit dem individuellen Ausdruck zu tun hat. Mit dem Ausdruck deines Lebens und der Zeiten. Wie das Bird machte. Bird hat sein Leben und seine Zeiten sehr deutlich ausgedrückt. Ebenso Billie Holiday und Miles Davis.

Wie steht es mit Tanzmusik?

Jazz war ja einmal Tanzmusik. Deshalb ist mein neues Album „Blue Light 'Til Dawn“ für mich so wichtig: es hat das Gefühl von Intimität, von Tanzen, vom Paarebilden. Nicht unbedingt vom schnellen Tanzen, wo man herumhopst. Es hat eher mit Intimität zu tun, mit Liebe, mit Sexualität und mit Tanzen in dieser Art.

Tourneedaten: 12.4. Hamburg, Kampnagelfabrik; 13.4. Hannover, Pavillon; 14.4. Berlin, Passionskirche; 16.4. Mainz, Frankfurter Hof; 17.4. Gütersloh, Jugendzentrum; 23.4. Zürich, Kaufleuten; 24.4. München, Bayrischer Hof