Besser Mitschlafen

Rainald Goetz' „Festung“ und Christoph Marthalers „Sucht/Lust“ am Schauspielhaus Hamburg  ■ Von Till Briegleb

71 Prominente, Allegorien und sonstige Geschöpfe treten in dem Fernsehshow-Drama „Festung – Kommunikation über Vernichtung“ von Rainald Goetz auf. Sie entstammen der Nazizeit oder der linken Nachkriegsgeschichte, dem Bereich der Philosophie, gehören zur Welt der Popmusik oder des Fernsehens. Der Autor versammelt sie zu einem Spiel, das lautet: „Wie sag ich ES?“

Der zweite Teil von Rainald Goetz' „Festung“-Trilogie handelt von der Verdrängung der deutschen Schuld an der Ermordung des europäischen Judentums, aber nicht nur der. All den „falschen Hunden“, ob Konkret-Schreiber Wolfgang Porth oder Klatsch-Kolumnist Michael Graeter, ob Joseph Goebbels oder Jan Philip Reemtsma, ob Martin Heidegger oder Katja Ebstein, möchte er die Lachmaske abklopfen. Unerhörte Dinge läßt er sie sagen, um die medialen Ikonen zerbrechen zu lassen. Denn Goetz ist ein Dichter des Hasses, und er sucht die Spuren der Haß-Zünder in den seelischen Kellern der Prominenz.

Mit manischer Akribie fahndet er nach dem Abwesenden, dem Nicht-Gedachten, Nicht-Gesagten, Nicht-Getanen. Was verdrängt wurde, kleidet er in Worte und legt sie seinen Figuren in den Mund. So stellen sich Verbindungen her zwischen dem Holocaust und Hape Kerkeling, zwischen der Wannsee-Konferenz und triefend- intellektueller Ehrbarkeit. Ein Erklärungsversuch für das organisierte Grauen in Form der großen gesellschaftlichen Inszenierung. Egal ob Aufklärer, Philosophen, Showstars oder Journalisten: in Goetz' „Festung“ ignorieren alle die historische Verantwortung. Nur wenige geistige und persönliche Freunde des Autors sowie einige allegorische Figuren wie Mnemopath, der Alte, die Obdachlose und Goetz selbst dürfen kritische und humanistische Züge behalten.

Wilfried Minks inszenierte diese umfängliche deutsche Seelenschau für das Schauspielhaus in Hamburg. Dabei fügt er dem Heer der kämpfenden Metaphern (dargestellt von dem beinahe vollständigen Ensemble) noch eine ganze Ausstellung an Bühnenbildern hinzu. Fast jede der rasch wechselnden, kurzen Szenen findet vor einer eigenen Kulisse statt. Ob Boltanskis Totenbilder oder der „Heiße Stuhl“ von RTL, alles hat Platz in dieser monströsen Gesellschaftsbetrachtung in der dramaturgischen Gestalt einer Fernseh- Gala. Wen wundert's, daß eine Regie in einem vom Text abgelösten Sinne nicht mehr auszumachen ist. Das Material organisiert sich praktisch selbst zur Attacke, und dank ihrer Unausweichlichkeit hat der Zuschauer nach zwei Stunden dann auch begriffen, worum es dem Autor wohl geht.

Die Theatersprache Christoph Marthalers, der in „Festung“ einen Auftritt als Rainer Werner Fassbinder hat, ist im Gegensatz zu dem Goetz/Minkschen Zeichenstakkato unverkennbar originär. Dehnung, Streckung und Versenkung lassen eine winzige Handbewegung auch in seinem neuesten Projekt „Sucht/Lust“ (das wenige Tage vor „Festung“ am Schauspielhaus Premiere hatte) zur Überraschung werden.

In einem fast leeren Raum mit Resten italienischer Frührenaissance-Fresken – Apokalypse und Paradies vielleicht? – sitzen sechs Personen auf einer langen Holzbank: Ein Obdachlosen-Paar, ein Schüchterling, eine Undine und zwei homoerotische Melancholiker. Wie immer in Marthalers Monaden des Wartens geschieht wenig, sehr wenig. Die versunkene Stille der in ihrer Traurigkeit erhabenen Personen wechselt diesmal mit orkanartigem Noise-Jazz ab. Dazwischen sind unscheinbare Details montiert, die nur bei denjenigen Assoziationen wecken, die selbst voller Geschichten sind. Und für diejenigen ist Marthalers Theater tatsächlich suchterzeugend. Auch wenn sich bei dem Schweizer Komponisten und Bildhauer von Theaterstücken die ersten Redundanzen zeigen, wohnt seiner mikroskopischen Arbeit doch immer noch ein Zauber inne, der im Theaterbeton eine einsame Insel des Morpheus erschafft.

Beide Projekte, die Inszenierung von Goetz' fast unmöglich zu transportierender Trilogie und die Anbindung Marthalers an das Haus (mit drei Projekten in dieser Spielzeit, unter anderem „Wurzel aus Faust 1+2“, das auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde), beschreiben treffend die Kur, die der neue Intendant Frank Baumbauer dem zuletzt künstlerisch abgewirtschafteten Haus verordnet hat. Unbequeme zeitgenössische Autoren, junge Regisseure und die Ermunterung an alle, Form und Inhalt des Staatstheaters zu überdenken, sind die Vorgaben, die der Intendant trotz drückender Sparquoten im Hamburger Kulturhaushalt am größten deutschen Sprechtheater durchsetzt.

Statt dem Applaus der Hut- und Handtaschenfraktion nachzulaufen, wie seine Vorgänger es taten und die meisten seiner Kollegen es tun, forciert er das künstlerische Risiko, führt wieder politische Debatten und hat Erfolg damit. Nur so, meint Baumbauer, kann die Diskussion über die Zukunft des Staatstheaters fruchtbar sein. Daß dieses Vorgehen alle Vor- und Nachteile eines Experiments besitzt – grausige Bauchlandungen und große Fontänen –, macht die Angelegenheit eigentlich nur spannender.

Rainald Goetz: „Festung“. Regie und Bühne: Wilfried Minks. Mit Bettina Engelhardt, Markus Boysen, Bernhard Schütz u.a. Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Nächste Vorstellungen: 15. und 21. April, 1. Mai.

Christoph Marthaler: „Sucht/ Lust“. Regie: Christoph Marthaler. Bühne: Katja Hass. Mit Özlem Soydan, Martin Pawlowsky, Martin Horn. Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Nächste Vorstellungen: 15., 16., 17. April.