Der letzte macht das Licht aus

■ In Berlin beschäftigt sich die Enquete-Kommission mit der Flucht- und Ausreisebewegung aus der DDR

Berlin (taz) – Schon lange vor der eigentlichen Ausreisebewegung aus der DDR befahl die Stasi präventive Schikanen gegen all die Bürger, die auch nur im entferntesten daran dachten, das Land zu verlassen. So ordnete sie 1975 an, daß durch alle staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftsleitenden Organe Maßnahmen zu ergreifen wären, die geeignet seien, die „Entwicklung von Absichten zum ungesetzlichen Verlassen der DDR“ zu verhindern. Dies berichtete am Montag der Direktor der Gauck-Behörde Hansjörg Geiger bei einer Anhörung der Enquete- Kommission zur Aufarbeitung der SED-Vergangenheit. Thema der Sitzung in Mielkes ehemaligem Hauptquartier war die Flucht- und Ausreisebewegung aus der DDR.

Aber so erfolgreich die Kontrolle auch war, der Geheimdienst konnte weder die Entwicklung von Fluchtgedanken noch deren Realisierung verhindern. Etwa 16 Millionen Menschen verließen von 1949 bis 1989 das Land, mindestens zwei Millionen nach diesem Befehl zur „Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels“.

So richtig in Schwung geriet die Ausreisebewegung ab März 1984. Alleine in diesem Monat ließen knapp 20.000 Menschen alles hinter sich. Die Staatsorgane waren alarmiert, und in der Bevölkerung kursierte der Spruch „Die Besten gehen in den Westen“. Der Soziologe Volker Ronge sagte bei der Anhörung, daß es sich bei den Menschen, die die oft mit Gefängnis bestrafte Ausreiseprozedur auf sich nahmen, vorwiegend um die „hochmotivierte“ und auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt „flexible Eliteauswahl der DDR-Bevölkerung“ gehandelt habe. Bemerkenswert sei, daß weniger die Konsumchancen des Westen zum Ausreisewunsch führten, sondern die Kontrolle des privaten Lebens in der DDR.

Insofern hätten die Übersiedler in doppelter Hinsicht – Qualifikationsentzug und Freiheitswille – zum Zusammenbruch des Systems „maßgeblich beigetragen“. Der ab 1988 kursierende Satz „der letzte macht das Licht aus“, sei „so falsch nicht gewesen“.

Genau diese Feststellung ist für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte aber der neuralgische Punkt. Denn die Oppositionsbewegung war der Meinung, daß die Ausreiser das System nicht schwächten, sondern im Gegenteil, daß das DDR-System durch den Abzug des kritischen Potentials gestärkt und sie selbst „verraten“ wurde. Wer einen Ausreiseantrag stellte, berichtete Pfarrer Werner Hilser, wurde von Freunden beschimpft, und „gesellschaftlich isoliert“. Konsens war, daß man nicht „weglaufen“, sondern etwas zu „verändern“ habe. Die Devise: Nur wer dableiben will, habe das Recht, etwas gegen den Staat zu sagen. Die Bürgerbewegung habe ihr Ziel, den Staat zu reformieren und einen Sozialismus „mit menschlichen Anlitz“ zu schaffen, durch eine Zusammenarbeit mit den Ausreisegruppen „nicht desavouiren wollen“, räumte Gerd Poppe (Bündnisgrüne) selbstkritisch ein.

Genauso heftig wie die Oppositionsbewegungen agierte die Kirche gegen die Ausreisewilligen, berichteten sowohl Pfarrer Hilse als auch eine Reihe von Zeitzeugen. Die Kirche habe vehement die „moralisch-ethische Keule“ geschwungen, alles nach dem Motto; „Bleiben ist das Bessere“ und „Gott hat dich nicht umsonst auf deinen Platz gestellt“. Sie habe versucht, die Menschen, die das Land verlassen wollten, „in die Vereinzelung zu drängen“. Diese Strategie, so lautete ein Fazit der Veranstaltung, erklärt, warum heute so wenige Übersiedler an den Problemen im Osten interessiert sind. Anita Kugler