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Bucklicht Männlein & Katzen-Mädchen

■ Gert Hofmann hat die verbriefte Liebesgeschichte des Göttinger Physikprofessors Lichtenberg ausgegraben und in Romanform übertragen

Im Januar 1783 schreibt der Göttinger Physikprofessor Lichtenberg einen Brief, der zu den klassischen Texten des Genres gezählt wird. In ihm beichtet Lichtenberg einem ehemaligen Schulkameraden, dem Pfarrer Amelung, seine Liebesbeziehung zu einem 23 Jahre jüngeren Mädchen. Maria Dorothea Stechard hatte jahrelang mit ihm in wilder Ehe gelebt und war im August 1782, gerade 17 Jahre alt, gestorben.

Das Schreiben an Amelung hat Walter Benjamin in seine Briefsammlung „Deutsche Menschen“ aufgenommen, als „Zeugen einer Sachlichkeit, die mit keiner neuen den Vergleich zu meiden hat“. In Wahrheit handelt es sich um eine stilistische Meisterleistung Lichtenbergs, der sich in dem Bemühen, sich vor seinem frommen Freund zu rechtfertigen, weit von den Tatsachen entfernt. „Sie sind und müssen der erste sein, dem ich es gestehe ... Was ich Ihnen sage, muß kein Mensch erfahren“, schreibt Lichtenberg, obwohl alle Welt längst um die Sache weiß. Dem Philosophen Garve hatte er vier Wochen zuvor einen fast gleichlautenden Brief geschickt, in dem er wahrheitsgemäß berichtet, er habe die Stechardin als Elfjährige kennengelernt und sie nach einem Jahr bei sich aufgenommen. Dem Pfarrer Amelung gegenüber macht er das Mädchen zwei Jahre älter und läßt sie im Alter von 16 Jahren bei sich einziehen. Nur ihr plötzlicher Tod habe ihn gehindert, sein Verhältnis zu ihr zu legalisieren. Sittsam, fromm, sanftmütig und bildungshungrig sei sie gewesen. Man möchte es Lichtenberg glauben, wäre da nicht der Brief aus dem Jahr ihrer ersten Bekanntschaft, in dem er von dem „bösen Katzen-Mädchen“ spricht, mit dem er sich nachmittags kratze und zanke.

Indem er sich selbst als empfindsamen Philanthropen und seine Geliebte als unschuldiges Naturkind darstellte, konnte Lichtenberg auf moralische Absolution durch seine aufgeklärten Freunde rechnen. Denn unter vielen bürgerlichen Intellektuellen galt die Stimme des Herzens damals mehr als gesellschaftliche Konventionen und die Forderungen der Kirche. Ermöglichte der Bruch mit der Konvention gar die ungetrübte Glückseligkeit der Liebenden, war er gerechtfertigt, zumindest verzeihlich. Lichtenberg hatte Gründe, sein Glück so deutlich auszumalen. Er vergaß auch nicht anzudeuten, „was für ein Sodom unser Nest“ Göttingen sei, und daß er Mädchen vor Schlimmerem bewahrt habe.

Die Legende, die der Göttinger Professor nach dem Tod seiner Geliebten über ihre Beziehung in die Welt setzte, hat also einen sozial- und geistesgeschichtlichen Hintergrund. Sie besitzt eine Funktion in Lichtenbergs Biographie und läßt deren Brüche und Widersprüche erahnen. Gert Hofmann hat das alles nicht gekümmert, als er seinen Roman über Lichtenbergs Liebe schrieb. Er nahm die Legende für bare Münze. Er ging sogar soweit, den berühmten Brief auf den Sommer 1777 zurückzudatieren, ihn also als spontane Reaktion auf Lichtenbergs Bekanntschaft mit der Stechardin auszugeben.

Vorsorglich hat Hofmann seinen Roman mit einem kleinen Vorwort versehen, in dem er dem Leser die Illusion nimmt, er habe es mit den Fakten genau genommen. Aber selbst wenn es sich nicht um einen Tatsachenroman handelt, bleibt sein Vorgehen fragwürdig. Es ist ein legitimer Standpunkt des Autors, daß er keinen Anspruch auf historische Wahrheit erheben mag, weil er ihn für uneinlösbar hält. Nicht aufgegeben jedoch hat er den Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Hofmann: „Nicht wie er war, sondern wie er auch hätte sein können“, habe er Lichtenberg dargestellt, sagt er quasi- aristotelisch.

Doch der Anspruch wird nicht eingelöst, weil eine überzeugende Idee fehlt, wie es denn hätte sein können. Die poetische Freiheit wird nicht genutzt, um eine glaubwürdige Version der Geschichte zu erfinden. Sie dient bloß dazu, Lichtenbergs eigene Schilderung auf zweihundert Seiten auszumalen. Über weite Strecken gelingt das gut. Dank des atemlosen Erzählstils liest man das Buch mit Vergnügen, trotz etlicher Redundanzen, Lichtenbergs Leben und seine Zeit betreffend – die sich nicht zu einem Gesellschafts- oder Epochenbild fügen.

Vier Wochen nach Abgabe des Manuskripts beim Verlag, an Lichtenbergs 251. Geburtstag, ist Gert Hofmann gestorben. Man merkt dem Text an, daß ihm der letzte Schliff fehlt. Einiges darin deutet darauf hin, daß der Autor seinen Tod zumindest vorausgeahnt hat. Das enge Nebeneinander von Glück und Tod ist ein zentrales Motiv in diesem Buch, und so muß Lichtenbergs Nachbar Erxleben genau in jener Nacht krepieren, in der ihn das Mädchen zum ersten Mal beglückt.

Im Vorwort gebraucht Hofmann die Wendung „vom Himmel her gesehen“, um seine Erzählweise zu rechtfertigen. Doch die Erzählung eröffnet keinen Ausblick in ein Paradies. „Nun wurde sein Kindchen wieder eingeschmolzen und würde in der Weltmaschine eine andere Stelle und Farbe und Form einnehmen“, heißt es gegen Ende. Statt auf ein Jenseits zu verweisen, nimmt die Welt selbst märchenhafte Züge an. Lichtenberg ist hier kein Charakter mit Widersprüchen, er schnurrt zur Märchenfigur des bucklicht Männlein zusammen, das durch die Liebe des unschuldigen Kindes das Glück kennenlernt.

Trotz aller Einwände – die ungebrochene Fabulierlust des Autors macht selbst dieses unfertige Buch zu einem Vergnügen. Und das, so Hofmann zehn Jahre vor seinem Tod, „braucht weniger als alles andere gerechtfertigt zu werden. Daß wir uns mit dem Überflüssigen abgeben ... ist ja auch ein Aspekt unserer Freiheit, den wir nicht verspotten oder absterben lassen sollten.“ Michael Bienert

Gert Hofmann: „Die kleine Stechardin“. Hanser Verlag, München 1994, 216 Seiten, geb., 36 DM.

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