■ Die Reformen haben die japanische Gesellschaft erreicht
: Kein Backlash trotz Krise

Noch bis vor wenigen Monaten galt Japan im Westen als Garant für politische Stabilität. Während die japanische Wirtschaft blühte, war von einer Regierungskrise in Tokio über Jahrzehnte nicht die Rede. Wer die politische Eintönigkeit der langen Jahre liberaldemokratischer Herrschaft und die einseitige, nur auf materielle Wohlstandsmehrung bedachte Gesellschaftshaltung noch in Erinnerung hat, für den ist Japan in diesen Tagen freilich kaum wiederzuerkennen. Zwar hatte die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt in dieser Woche keine handlungsfähige Regierung mehr. Doch von den Stabilitäts- und Sicherheitsängsten, die noch vor Jahren fast ausschließlich das Wählerverhalten bestimmten, war kaum mehr etwas zu spüren. Niemand überdramatisierte den Rücktritt des Premierministers und die anschließende Koalitionskrise. Nicht die Angst vor dem Ungewissen, das die Politik derzeit verkörpert, überwog. Statt dessen herrschte die Gewißheit, daß Japan den einmal eingeschlagenen Weg der Reformen weitergehen wird.

In der Tat haben acht Monate Reformregierung die politische Kultur in Japan bereits so weitgehend verändert, daß eine Rückkehr in die politische Isolation unter der Liberaldemokratischen Partei (LDP) undenkbar geworden ist. Alle Einzelheiten des politischen Lebens, die vorher nur in vagen Formulierungen der Zeitungen ans Licht kamen, werden heute in den Medien offen und breit diskutiert. Allein die größere Transparenz der politischen Verhältnisse gibt vielen Japanern heute neues Vertrauen.

Der Zwang für die Parteien, an den Reformen festzuhalten und die politische Öffnung des Landes weiter zu betreiben, kommt aus der Gesellschaft. Mehr denn je sind sich die Japaner gewahr, daß sie den Rest der Welt brauchen, wenn das Land seinen hohen Wohlstand bewahren will. Nicht einmal die anfangs so umstrittene Öffnung des japanischen Reismarkts im Rahmen der Uruguay-Runde des Gatt wird heute noch angefochten. Trotz der auch in Japan allgegenwärtigen Wirtschaftskrise haben nationalistische Töne keine Chance. Sogar die LDP tendiert in der Opposition ins Zentrum und nicht nach rechts.

Darüber hinaus suchen die Japaner nach neuen sozialen Werten: Männer entdecken die Familie neben der Arbeit wieder als Mittelpunkt ihres Lebens, während Frauen nach neuer Verantwortung außerhalb der Familie suchen. In den Straßen von Tokio und Osaka trifft man längst nicht mehr auf den eindimensionalen Fabrikmenschen von Toyota oder Mitsubishi. Das Leben in Japan ist vielseitiger, aber auch komplizierter geworden. Die Politik spiegelt diese Entwicklung wider, und genau darin liegt ihre Chance. Georg Blume, Tokio