Türkei: Entfernung von der Truppe

Der Krieg der türkischen Armee in Kurdistan sorgt für eine Militarisierung der Gesellschaft – und für massenhafte Verweigerung / Pazifisten drohen hohe Haftstrafen  ■ Aus Istanbul und Izmir Sven Griemert

Bei einigen der rund 40 Jugendlichen der „Plattform Sozialdemokratischer Studenten“ kommt Gemurmel auf. Was denn das bitteschön sei, „Kriegsdienstverweigerung“? Erst nach einer kurzen Erläuterung verstehen sie überhaupt die Frage. „Nein“, meint ein Student, „dieser Begriff ist für die meisten türkischen Menschen völlig unverständlich, geradezu absurd.“ Besonders auf dem Dorf. Wer hier, aus welchem Grund auch immer, seinen Kriegsdienst nicht leistet, bekommt meist keine Arbeit mehr. „Und erst recht keine Frau“, fügt ein 23jähriger Kommilitone mit ernstem Gesicht hinzu.

Andere melden sich. Einer würde den Kriegsdienst lieber heute als morgen verweigern, „wie anderswo auch in Europa“, meint er. Doch niemand in dieser politischen Jugendorganisation kann sich vorstellen, eine solche Forderung an die türkische Gesellschaft zu richten: „Wer hier nur daran denkt, den Kriegsdienst zu verweigern, landet ein paar Tage später im Knast“, bringt es einer auf den Punkt und bittet schnell, seinen Namen nicht zu veröffentlichen.

Die Stimmung in der Türkei ist gespannt. Immer weiter eskaliert der Krieg in Kurdistan, werden die Folgen auch im Westen der Türkei deutlicher. Und immer mehr junge Menschen verweigern den Kriegsdienst, 250.000 sind es bereits nach offiziellen Schätzungen. Kurden, die nicht gegen ihre Landsleute kämpfen wollen, oder junge Männer, die sich vor den schlimmen Schikanen in der Armee fürchten oder schlicht Angst vor dem Tod im Kurdistankrieg haben.

Unter den Verweigerern aber auch junge Männer, die trotz dieser aufgeheizten Lage ganz bewußt nein zum Militär sagen – und das erfordert Mut. Überzeugte Pazifisten wie der 23jährige Osman Murat Ülke aus Izmir zum Beispiel. Er ist einer von 14 jungen Türken, die inzwischen öffentlich den Kriegsdienst verweigert haben. Drei Monate tourte er mit der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner durch Deutschland. Jetzt ist er zurück in Izmir und hat Angst, verhaftet zu werden.

Denn Ülke, seit kurzem Vorsitzender des Vereins der KriegsgegnerInnen in Izmir, könnte es schon bald genauso gehen wie Aytek Özel oder anderen, die sich aus Gewissensgründen oder aus politischen Motiven heraus gegen den Kriegsdienst ausgesprochen haben. Als Mitarbeiter des Vereins der KriegsgegnerInnen in Istanbul vertrat Özal seine Position im türkischen Fernsehsender HBB. Seither sitzt er im Gefängnis, wie auch die beiden verantwortlichen Journalisten von HBB, Erhan Akyildiz und Ali Tevfik Berber. Allen dreien wird der Versuch vorgeworfen, „das Volk vom Militär zu distanzieren“.

Nach Paragraph 155 des türkischen Strafgesetzes können Richter in solchen Fällen Strafen von zwei Monaten bis zu zwei Jahren verhängen. Eine dreimonatige Haft brachte den beiden Journalisten Akyildiz und Berber das Interview ein. Auch Aytek Özel sitzt seit dem 8. Februar hinter Gittern. Nach Mitteilung seiner Anwältin wurde Özel in Haft auch gefoltert, kein Einzelfall bei Kriegsgegnern.

Und wie es aussieht, wird sich die Situation zuspitzen. Nach neuestem Gesetz sollen die 250.000 Militärverweigerer schärfer verfolgt, eingesammelt und hart bestraft werden. Bis zum 19. Mai ist ihnen jetzt eine Frist gesetzt worden, sich freiwillig zu melden und mit einer Geldstrafe davonzukommen.

Zusätzlichen Zündstoff wird auch das Ende der „10.000-Mark- Regelung“ für die in der Türkei lebenden Männer mit sich bringen. Künftig wird sich so keiner mehr eine auf einen Monat begrenzte Grundausbildung „erkaufen“ können. Diese Regelung hatte in der türkischen Gesellschaft zunehmend für Unruhe gesorgt. Denn während sich die Reichen vom Krieg freikaufen konnten, mußte die ärmere Bevölkerung ihre Söhne in den Krieg schicken.

Neu ab 19. Mai ist auch die bereits beschlossene Strafverschärfung für Kriegsdienstverweigerer. Fahnenflüchtigen, Deserteuren und Verweigerern aus Gewissensgründen drohen dann „schwere Haftstrafen“. Konkret, so die Auskunft türkischer Rechtsanwälte, ist es der Türkei über diesen Weg möglich, dem unliebsamen Verweigerer seine Bürgerrechte zu entziehen; ihm also zum Beispiel den Paß abzunehmen oder ihm das aktive und passive Wahlrecht abzuerkennen.

Und immer häufiger wird auch den im Ausland lebenden Türken, die sich nicht zum Militär melden, der Paß nicht verlängert oder die Staatsangehörigkeit kurzerhand aberkannt. Der kürzeste Weg, Kriegsdienstverweigerer loszuwerden.