Reformen ohne Reformoffensive?

Die SPD will niemanden verunsichern und scheut sich vor einer klaren Ankündigung ihrer Vorhaben. Das reicht vielleicht für den Wahlsieg. Reicht es für einen Politikwechsel?  ■ Von Matthias Geis

„Das Beste, was wir seit Brandt hatten“, nennt Peter Glotz, aussichtsreicher Kandidat für ein Amt im Kabinett Scharping, seinen Kanzler in spe. Ganz so euphorisch dürfte das Urteil über den Vorsitzenden in der gesamten Partei kaum schon ausfallen; doch wenn Rudolf Scharping – wie kürzlich bei einem Besuch des Berliner Tagesspiegel – heute selbstbewußt verkündet, die SPD habe ihr „Bedürfnis nach innerparteilichen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit ausgelebt“, wird er kaum Widerspruch ernten. Nur die Bewertung der neuen Geschlossenheit fällt noch unterschiedlich aus. Von „Friedhofsruhe“ spricht Johano Strasser, an die „disziplinierende Wirkung“ des Wahljahres erinnert Freimut Duve, und Bundesgeschäftsführer Verheugen stellt fest, daß mit Scharping das Machtvakuum in der Partei beendet wurde. Nicht genannt werden will verständlicherweise der Urheber einer eher drastischen Begründung für das neue Erscheinungsbild der Genossen: „Scharping bricht allen die Knochen.“

Doch allzu brachiale Methoden bei der innerparteilichen Befriedung sind bislang nicht überliefert. Eher dürfte die neue Disziplin der Partei mit ihren neugewonnenen Chancen zusammenhängen. Scharping und sein Kurs werden akzeptiert, weil sie im Hinblick auf den Bonner Machtwechsel erfolgversprechend erscheinen. Daß es nicht die spannendste SPD ist, die sich da präsentiert, daß nicht nur das Angebot an Partnern im Herbst größer als die Nachfrage sein könnte, sondern daß man sich diese SPD auch als Koalitionspartner aller anderen – inklusive Union, selbstredend ohne „Republikaner“ – vorstellen kann, darin scheint das Geheimnis der schönen Prognosen zu liegen. Und die Zumutung, die Scharping den Genossen so erfolgreich abverlangt: Seine Konzentration auf wirtschaftliche Entwicklung und neue Arbeitsplätze läßt wenig Spielraum für die Themen, die die Sozialdemokraten nach ihrem Bonner Machtverlust als unabdingbare Reformprojekte für sich entdeckt hatten. Daß die SPD derzeit versuchen würde, ein Reformklima zu erzeugen, läßt sich schwerlich behaupten. Statt dessen agiert sie übervorsichtig, vermeidet die Ankündigung konkreter Vorhaben und damit auch die Zuspitzung der öffentlichen Debatte, an der erst ihr Profil erkennbar würde.

Doch geht die Monothematik „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ so weit, daß die SPD auch ihr Ziel ökologische Erneuerung beiseite schiebt? Die Frage steht, seit der Entwurf des SPD-Regierungsprogramms vorliegt, das den Mangel an ökologischer Konkretion mit eher allgemeinen Absichtsbekundungen zu kompensieren sucht. Schlimme Dinge wie das lange geforderte Tempolimit oder die Ankündigung einer Mineralölsteuererhöhung findet man nicht mehr. Manche sehen darin bereits deutliche Signale für die Absage an eine verantwortliche umweltorientierte Reformpolitik, die die SPD seit Jahren propagiert.

Sanft kommt die Debatte in Gang: Eine „verbindliche Konkretisierung“ fordert der SPD- Ökologieexperte Hermann Scheer, eine „gemäßigte Konkretisierung“ kann sich Peter Glotz vorstellen, Versuche zu einer „Präzisierung des ökologischen Profils“ erwartet die stellvertretende Parteivorsitzende Heidemarie Wieczorek- Zeul, und noch der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Michael Müller bleibt, bei aller Kritik, optimistisch: „Die SPD wird den Kurs der Erneuerung halten.“ Wird sie?

Zwar fordert das Programm neben dem sozialen auch einen „ökologischen Generationenvertrag“, wird betont, daß Ökologiepolitik nicht im Widerspruch zu wirtschaftlicher Entwicklung und neuen Arbeitsplätzen steht – im Gegenteil. Doch die Ausführungen zur ökologischen Steuerreform, dem Schlüsselkonzept für die Durchsetzung von umweltverträglicher Produktion klingen zurückhaltend. Da wird als „Leitidee dieser Reform“ ausgeführt, „einerseits die Arbeit steuerlich zu entlasten und andererseits den umweltschädlichen Energie- und Materialverbrauch einzuschränken“. Doch der Hebel, mit dem diese Einschränkung gelingen soll, die steuerliche Belastung, wird – Zufall? – nicht benannt. Wer sich trotzdem verschrecken läßt, wird weiter beruhigt: die SPD will „ein längerfristig angelegtes, schrittweises und berechenbares Vorgehen wählen“. Das Versprechen, daß alles etwas länger dauern wird, klingt überzeugend: Die Partei strebt eine „EU-weite Regelung“ an.

Die SPD ist ein gebranntes Kind. Den Fehler allzu detaillierter Festlegungen aus dem Bundestagswahlprogramm 1990 will sie nicht wiederholen. Die Union, so Peter Glotz, wartet nur darauf, „daß wir den ganzen Katalog an Folterinstrumenten wieder aufnehmen“. Wolfgang Thierse spricht davon, daß man die ökologische Reform „dosieren“ müsse. Doch alle, Renate Schmidt, Herta Däubler-Gmelin, Heidemarie Wieczorek- Zeul, Verheugen, Thierse und Glotz, bestreiten vehement, daß sich die SPD in freudiger Erwartung des Machtwechsels sanft von ihren ökologischen Reformprojekten verabschieden wolle. Für sie reduziert sich der Programmdissens schnell auf die Frage, wie man die ernstgemeinten Reformprojekte ankündigt, ohne die Bürger zu verunsichern und dem politischen Gegner die Chance zur populistischen Kampagne zu liefern. Doch daß es sich bei der Auseinandersetzung um die Konkretion sozialdemokratischer Wahlaussagen nur um die Frage einer behutsamen Präsentation handelt, bezweifelt Hermann Scheer: „Es gibt ein Bedürfnis nach Kompetenz, das Rudolf Scharping befriedigt. Doch es gibt auch ein Bedürfnis nach überzeugenden Zukunftskonzepten. Daran hapert es.“

Die SPD befindet sich in einem strategischen Dilemma. Sie beschwört die Notwendigkeit eines „großen gemeinsamen Aufbruchs zu neuen Zielen“ (Programmentwurf) und ahnt zugleich, daß sie ihre Erfolgsaussichten nur wahren kann, indem sie das Sicherheitsbedürfnis der Bürger in besonderer Weise bedient. Beides ist schwer miteinander zu vereinbaren. „Sind wir in der Lage, nicht nur die Ängste zu besänftigen, sondern können wir zugleich klarmachen, daß wir ein Konzept haben, das nach vorne weist“, fragt Peter Glotz. Warnender formuliert Michael Müller: „Radikale Forderungen ermöglichen noch keine neuen Mehrheiten, aber veränderte Mehrheiten müssen auch noch keine neue Politik zur Folge haben.“

Scharping vermeidet die „radikalen Forderungen“, um die Chance auf die Mehrheit nicht vorzeitig zu verspielen. Ob er eine Mehrheit im Herbst dazu nutzen will, eine Reformpolitik zu entwickeln, bleibt offen. Doch auch wenn er es will: den Handlungsspielraum öffnet er nicht erst im Herbst. Reformpolitik ohne Reformoffensive?

Am Ende gilt: Wenn die SPD ihre politischen Vorhaben nicht offensiv vertritt, die Notwendigkeit für ein Umsteuern eher verschleiert, das gesellschaftliche Sicherheitsbedürfnis zum Fetisch und die angenommene „Belastungsgrenze“ zum ersten Wahlkampfmaßstab erklärt, reicht es vielleicht zum Bonner Machtwechsel. Doch eine besänftigte Gesellschaft könnte dann für die Krisenreform ähnlich unvorbereitet sein wie 1990 für die materiellen Zumutungen der Einheit. Siegt Scharping am Ende für den bloßen Regierungswechsel?