Minimalismus mal anders

■ Morphine aus Boston schaffen nach und nach die Instrumente ab. Morgen kommen sie ins Huxley's

Früher oder später mußte es einfach eine Band wie Morphine geben. Die Gitarrengötter hatten sie schon lange angekündigt, indem sie auf der Bühne gern jenes Instrument zerstörten, das ihren Mythos erst begründet hatte: Jimi Hendrix überließ etliche seiner Gitarren dem Feuer, Pete Townshend zerdepperte seine Sechssaitige bei vandalistischen Bühnenorgien, während andere Gitarrenmänner ihre Karriere an den Nagel und ihr Instrument ins Hardrock- Café hängten. Sollte etwa damals schon das Verschwinden der Gitarre inszeniert werden? Und ist es nicht ein schicksalhafter Fingerzeig, daß Kurt Cobains freiwilliges Hinüberdriften einer der erfolgreichsten Gitarrenbands der letzten Jahre den Garaus gemacht hat?

Nachdem die Zeichen lange Zeit unübersehbar waren, sind sie nun auch unüberhörbar: Das amerikanische Trio Morphine, diese Woche auf Deutschlandtour, hat zwar Schlagzeug und Baß, aber keine Gitarre. Die scheint ein Opfer der Evolution geworden zu sein, überflüssig gemacht und ersetzt durch ein ungestümes Bariton-Saxophon. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für das coolste aller Blasinstrumente. Denn damit stirbt das Image als Bigband-Accessoire und von sonnenbebrillten Typen gespieltes Untermalungsinstrument aus der Langnese-Werbung. Dana Colley, saxophonspielender Mittelpunkt von Morphine, bringt sein Instrument zum Wimmern und Raunen. Die Band wirkt insgesamt mehr subkutan: Minimalismus mal anders, bei dem man die Gitarre nicht vermißt.

Was nicht heißt, daß es nicht durchaus einige Gitarristen gibt, denen Mark Sandman, somnambuler Bassist, Sänger und eine Art kleiner Bruder von Tom Waits, eine Chance in seiner Band geben würde: „Jimi ... Muddy ... Steve ...“ Doch die toten Helden haben ihre Schuldigkeit auf Erden getan, sowohl mit Gitarre als auch ohne. „Und so bleibt uns nur der imaginäre Luftgitarrist“, grinst Mark Sandman. Der jedoch ist ständig dabei, denn gerade Gitarrenklänge haben bei den drei aus Boston die Muttermilch ersetzt. Die bedächtige Bluesgitarre bei Muddy Waters, der virtuose Schlimmfinger von Jimi Hendrix. Und zu guter Letzt ist Boston immer ein Synonym für Gitarrenrock gewesen: Pixies und Throwing Muses, Dinosaur und Mission of Burma. Jeder in dieser Stadt spielt Gitarre.

So ursprünglich auch Mark Sandman, Dana Colley und Jerome Deupree, bevor sie 1989 die ganze eingeatmete Gitarrenluft von einem Saxophon wieder ausatmen ließen, begleitet von einer dunstigen Bluesstimme und einer Schrägheit, die an Universal Congress Of erinnert. Dokumentiert auf den Platten „Good“ und „Cure for Pain“. Morphine schaffen es, trotz der sparsamen Instrumentierung brachial über Tonleitern zu klettern. Doch das reicht dem Trio nicht. Es wird immer weiter reduziert.

Mark Sandman scheint den Minimalismus so sehr verinnerlicht zu haben, daß beim musikalischen Ausmisten nicht nur die Gitarre dran glauben mußte. „Werdet eure Saiten los!“ hat er in der französischen Tageszeitung Libération den Musikern dieser Welt zugerufen. Das Ergebnis kann hörenswert sein: Sandman selbst duldet auf seinem Baß nicht mehr als zwei Saiten. Anne Zielke

Im Rahmen ihrer Deutschlandtournee sind Morphine nach Frankfurt, Köln und Hamburg morgen auch in Berlin zu sehen, um 21 Uhr im Huxley's Junior, Hasenheide 108–114, Neukölln.