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Alles wie im richtigen Leben

„Aus dem Alltag einer Malerin“ – Uraufführung des Obdachlosentheaters „Ratten“  ■ Von Ulrich Clewing

Der Impresario, der „Dealer“, der mit den Wollsocken, den hochhackigen roten Pumps, dem transparenten Regenmantel und dem Volksbühnen-T-Shirt unter der Anzugsjacke – er hat sie alle in der Hand. Er gibt die Befehle. „Aufwachen“, „Zähne putzen“, „Essen“. Und alle parieren: die Malerin, der Student, die Schauspielerin, die beiden Alten, der Müllmann, Mäx, Bolli, Porno, Stroh und der Entlassene. Selbst der jugendliche Dichter, sonst nur mit allerlei Flausen im Kopf, gehorcht. So richtig lebendig wird die Szenerie erst, als das androgyne Scheusal verschwunden ist. Die bunt zusammengewürfelte Truppe auf dem Hinterhof irgendwo in der großen Stadt kommt sich näher.

Oder auch nicht. Denn sehr viel mehr als ihre Existenz am Rande der bürgerlichen Gesellschaft ist es nicht, was die verschiedenen Figuren und Charaktere verbindet. Einige von ihnen werden den Kreis der Unglücklichen bald verlassen haben, andere gehören schon zu lange dazu, um mehr als einen Schlafsack zu besitzen. Mäx zum Beispiel, oder Bolli, oder Porno, mit seinen silbernen Hosen und dem goldenen Jäckchen, unter dem eine imposante Wampe hervorlugt. Die Malerin dagegen kennt nur ihre Kunst und will sie mit niemandem teilen. Mißlaunig stolziert sie durch die karge Kulisse und verschanzt sich anschließend hinter ihrer Leinwand. Der Dichter brabbelt etwas „vom Leid der Welt“, das er auf sich laden will, die Schauspielerin probt unablässig eine ihrer unzähligen Rollen, und der Student kommt wie immer zu allem zu spät. Natürlich ist er auch der letzte, der was merkt, als dieses menschliche Panoptikum endlich den Aufstand gegen den Dealer beschließt. Was ihn nicht davon abhält, gleich große Reden zu schwingen. Da gefällt sich einer mächtig in der Rolle des Toleranten.

Die Uraufführung von „Aus dem Alltag einer Malerin“, eine Milieustudie des 23jährigen Berliners Johannes Breu in der Regie von Roland Brus, ist die mittlerweile siebte Produktion des Obdachlosentheaters „Die Ratten“, seit das Ensemble mit wechselnder Besetzung im Herbst 1992 vom schottischen Regisseur Jeremy Weller in dessen Stück „Pest“ an der Volksbühne debütierte. Furore war damals schnell gemacht, die Kritik lobte die Authentizität der Laiendarsteller, die doch nur sich selbst spielten, die „Ratten“ wurden zum Theatertreffen nach Freiburg eingeladen und zum „Fringe“-Festival nach Edinburgh. Berber auf der Bühne, das war unerhört, das war neu und unverfälscht.

Inzwischen hat sich die Situation bei den „Ratten“ weniger äußerlich, als von innen heraus geändert. Mit Roland Brus, dem ehemaligen Assistenten Wellers, steht der Gruppe seit geraumer Zeit ein bis zum Umfallen engagierter Profi zur Seite. Überdies wird das neunköpfige Ensemble in der Volksbühnenkoproduktion „Alltag einer Malerin“ durch vier gelernte Schauspieler verstärkt. An Stelle der Improvisation sind feste Rollen getreten. Schauspiel statt reiner Selbstdarstellung. Und das mit gehöriger Präsenz (nur manchmal freilich noch etwas dilettantisch.)

Zu den schönsten Momenten der Inszenierung gehört eine ganz stille Szene: Mäx (Jumbo) vertraut der Schauspielerin (Tamara Bolzmann) seinen Lebenstraum an: „Kinder haben“. Da schwillt selbst den Hartgesottensten im überwiegend jugendlichen Publikum ein dicker Kloß im Hals. Und als daraufhin Mäxens schwulem Freund Bolli (Rolfi Fahrenkrug-Petersen) ein entzückendes „Du bist nur ein bißchen überspannt“ entfährt, weiß man gar nicht mehr, ob man nun lachen oder weinen soll.

Die meisten Zuschauer entscheiden sich an diesem Premierenabend fürs Lachen. Auch sonst geht es in den knapp zwei Stunden vornehmlich recht geräuschvoll zu. Der rauhe Ton ist die Stimmlage der „Ratten“ geblieben, selbst wenn die beiden urkomischen Alten (Wolfgang Sysiphus Graubarth und Paul Engel) oder Hans-Werner Leupelt als herrlich delirierender Dichter ein ums andere Mal für befreiende Heiterkeit sorgen. Am Ende ist dann doch alles beim alten geblieben, das Verhältnis von oben und unten wieder hergestellt. Ganz wie im richtigen Leben. Nach wie vor sind alle Mitglieder der „Ratten“ obdachlos.

Weitere Vorstellungen am 20.4., 21 Uhr, Pfefferberg, Schönhauser Allee 176 sowie am 27. und 28.4., 2., 4., 8., 9., 23., 26., 30.5., jeweils um 21 Uhr, Kulturbrauerei, Knaack-/ Ecke Dimitroffstraße, beides Prenzlauer Berg.

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