Ein Regime demontiert sich selbst

Ende des politischen Frühlings in Westafrika: Im traditionell liberalen Senegal sitzt die Opposition hinter Gittern, die Regierung hält sich bedeckt, und die Bevölkerung traut dem Staat nicht mehr  ■ Aus Dakar Alassane Faye und Craig Naumann

Das Leben ist schwer geworden in Senegals Hauptstadt Dakar. Die Menschen sind müde. Ihr Entwicklungsmodell ist in der Krise. Die Zeiten des Dichterpräsidenten Leopold Senghor, der die Mehrparteiendemokratie einführte und Senegal zu einem Vorbild des Fortschritts in Afrika machen wollte, scheinen weit weg.

Der 16. Februar 1994 war ein Schicksalstag, der Senegal nachdrücklich verändert hat. Die in der „Koordination der Demokratischen Kräfte“ verbündeten Oppositionsparteien hatten in der Hauptstadt zu einer Versammlung aufgerufen. Reden sollten die wichtigsten Gegner des Staatspräsidenten Abdou Diouf, vorneweg Abdoulaye Wade, Führer der liberalen „Demokratischen Partei“ (PDS). Redestoff gab es genug: Einen Monat zuvor war der in allen frankophonen Ländern Afrikas geltende CFA-Franc um die Hälfte abgewertet worden.

Stark vertreten auf der Versammlung waren Mitglieder einer islamistischen Vereinigung namens „Sucher und Sucherinnen nach Rechtschaffenheit“ (Moustarchidin wal moustarchidatin – MWM). Als Wade seine Rede beendet hatte, kamen von diesem Teil der Menge Rufe nach Revolte: „Wir wollen demonstrieren!“ wurde geschrien, und auch die alte PDS-Parole „Sopi!“ (Wandel!) war zu hören. Wade, müde und genervt, rief zurück: „Ihr wollt demonstrieren – also los mit euch!“

Die Menge ging los. Auf dem Weg zum Präsidentenpalast flogen Steine, Fenster gingen zu Bruch, Busse brannten. Die Polizei war völlig überrascht. Eines der wenigen entsandten Polizeiautos wurde angegriffen und mußte anhalten; dann sprang der Motor nicht mehr an, die fünf unbewaffneten Beamten wurden gelyncht.

48 Stunden später schlug die Staatsmacht zu: Wade und der Linksführer Landing Savané wurden verhaftet, die MWM landesweit verboten. Die Islamisten meldeten später, 150 ihrer Anhänger seien verhaftet worden und einer, Lamine Samb, an Folter gestorben. Auch Aktivisten der regulären Parteien wurden festgesetzt.

Es war nicht der erste Zusammenstoß zwischen Staat und legaler Opposition. Savané war im Dezember 1993 nach Unruhen in einer Vorstadt schon einmal verhaftet worden, Wade im vorigen Sommer nach dem mysteriösen Mord an Verfassungsrichter Boubacar Seye. Viele Beobachter sehen in all diesen Vorfällen Parallelen: Provokateure der Staatsmacht setzen Szenarien der Destabilisierung in die Tat um, die als Vorwand dienen, die Opposition einzuschränken.

Aber die neue Affäre ist schwerwiegender. Wade und Savané sind die Führer der parlamentarischen Opposition – seit Februar sitzen sie nun ohne Anklage im Gefängnis. Festgehalten werden sie, zusammen mit dem Parlamentarier Papa Omar Kane, unter dem Verdacht der flagrance, also der „frischen Tat“ – ein Rechtsdispositiv zur Aufstandsbekämpfung aus der Kolonialzeit, dessen fortdauernde Gültigkeit von Rechtsanwälten bestritten wird. Die parlamentarische Immunität der Verhafteten ist nicht aufgehoben, was die Verhaftung nach Überzeugung ihrer Anwälte rechtswidrig und ein reguläres Gerichtsverfahren unmöglich macht. So bleiben sie ohne formelle Anklage in Haft. Zugleich ist eine polizeiliche Untersuchung im Gange, unter Aufsicht des Innenministers, was das Verfahren auch der formell unabhängigen Justiz entzieht.

Die ganze Geschichte hat das politische Klima Senegals verändert. Drei Wochen nach ihrer Verhaftung drohten die Politiker mit einem Hungerstreik, da sie immer noch nicht vor einen Untersuchungsrichter geführt worden waren. Die PDS berichtete am letzten Montag, Wades Finanzberater Samuell Saff, ebenfalls in Schwierigkeiten mit der Justiz, habe einen Hungerstreik begonnen. Mehrmals sind Studenten, die für die Opposition demonstrierten, auf dem Universitätsgelände mit der Polizei aneinandergeraten. Ein Dutzend von ihnen ist in den Hungerstreik getreten; Lehrer und Intellektuelle schalten in Oppositionsblättern Solidaritätsanzeigen mit Unterschriftenlisten. Das Regierungslager reagiert auf all dies mit einer erstaunlichen Schwerhörigkeit, die die Frage aufwirft, ob die Führer der regierenden Sozialistischen Partei (PS) wissen, was im Lande vorgeht.

Die PS-Zeitung Le Soleil und das staatliche Fernsehen schweigen. Präsident Diouf sagt, ihn gehe die Sache nichts an, da die Justiz unabhängig sei. Er begreift sich weiter als internationaler Staatsmann, der am liebsten vor den Türen anderer kehrt. Nachdem er sich in Kuwait als Golfkriegsfreund feiern ließ, fuhr er letzte Woche für einen sechstägigen Staatsbesuch nach Paris, ohne daß er den Unabhängigkeitstag des 4. April nach altem Brauch zu einer Gefangenenamnestie genutzt hätte. In seiner traditionellen „Rede an die Nation“ am Abend vor dem Feiertag ging er auf die verhafteten Oppositionsführer überhaupt nicht ein. Erst in Frankreich sprach er davon: Wade und seine Mithäftlinge würden nicht wegen Meinungsäußerungen oder ihres Standes als Oppositionsführer festgehalten, sondern „als Komplizen von Verbrechen“.

Das Risiko für den Staat, sein Gesicht zu verlieren, wird derweil immer größer. Das offizielle Selbstbild Senegals als tolerantes, redebegabtes Land verblaßt neben dem andauernden amtlichen Schweigen in dieser derzeit wichtigsten Staatsaffäre. Die Senegalesen entdecken, daß es in ihrem Land auch eine Tradition der Gewalt gibt. Es herrscht ein Klima der allgemeinen Unruhe. Seit dem 16. Februar bewachen Soldaten und Gendarmen in Dakar die strategischen Plätze mit automatischen Gewehren. Und noch nie sahen die Dakarer ein so großes Sicherheitsaufgebot wie zum Ende des Ramadan Mitte März, als Präsident Diouf in der Großen Moschee von Dakar betete.

Die politische Angst paart sich mit wirtschaftlichen Sorgen. Lebensmittel, Kleidung und Medikamente sind seit der CFA-Abwertung um 40 bis 120 Prozent teurer geworden. Die Bauern, deren Produktion ja eigentlich durch die Verteuerung von Importen wettbewerbsfähiger gemacht werden sollte, müssen mit massiv verteuertem Saatgut kalkulieren und verschulden sich noch tiefer und zu höheren Zinsen als bisher. Schon jetzt ist abzusehen, daß die nächste Ernte schlecht ausfallen wird und mehr Lebensmittel importiert werden müssen. Für Diouf ist das ein Schlag ins Gesicht. Er hatte seinen Landsleuten erklärt, es werde keine Abwertung geben – wenige Tage später gab es sie doch: ein schwerer Glaubwürdigkeitsverlust des Mannes, der die letzten Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr mit dem Versprechen einer sechsprozentigen Wachstumsrate gewonnen hatte.

Einst zählten die Senegalesen auf ihren Weltstaatsmann Diouf, der noch vorhat, bis mindestens zum Jahr 2000 im Amt zu bleiben. Nun fühlen sie sich betrogen. Die Krise ist überall, das Feld ist frei für politische Abenteurer – von islamistischer Seite oder sonstwo.