Die weite Ebene des Schlafs

■ „Dr. Ratte“ in den Kammerspielen: Affektierter Schmarrn statt Wissenschaftskritik

Mal sieht er aus wie Al Pacino als Gangsterboß in Warren Beattys Film Dick Tracy, dann wieder wie Adolf Hitler, Minuten später könnte er auch Johnny Rotten sein und bevor man es sich versieht, versetzt einen Johannes Silberschneider in den Kosmos von Erich Kästner-Filmen. Eigentlich aber ist er Dr. Ratte, der an seiner Genialität irre gewordene Wissenschaftler. Dessen heißgelaufener Ehrgeiz träumt von dem Geist-Seelen-Transplantat zwischen Tier, Mensch und einer neu zu schaffenden Bio-Version aus beiden Bestandteilen.

Die Wissenschafts-Groteske, die Thomas Körner aus William Kotz-winkles Roman Dr. Ratte destilliert hat, besitzt also ein ernsthaftes Anliegen. Wir sollen an die Achtung vor dem Leben gemahnt werden und lernen, daß das hemmungslose Gebastel an der Evolution zur Diktatur der menschenverachtenden Nützlichkeit führt. Oder so ähnlich jedenfalls. Denn der Text, den Herr Körner hier verbrochen hat, ist allergrößter Schwachsinn. Zwischen hohlen Phrasen, leerem Geblubber und grausigem Gelyrike, immer schön unterbrochen von einer heißen Jazznummer nach schriftlicher Anleitung von Lester Bowie, wird ein affektierter Schmarrn zur Wissenschafts-Kritik umgemünzt, daß man heulen möchte.

Überfrachtet mit possierlichem Fach-Jargon und männlicher Leidenspose, grottenschlechten Dialogen und den unvermeidlichen Anzüglichkeiten finden sich in diesem Text keine fünf Minuten, in denen man nicht vor Peinlichkeit laut aufstöhnen möchte. Heiter wurde es in der nicht ausverkauften Premiere nur unfreiwillig: Wenn Dr. Ratte sprach: „Weit dehnt sich die Ebene des Schlafs“ und aus dem Parkett „Stimmt genau!“ als Antwort kam.

An der lockeren Leine der barbarinoschen Regie kaspert Silberschneider durch oben angedeutete Rollenzitate, beeindruckt durch kabarettistische Fingerfertigkeit, nimmt aber dem verhandelten Gedanken dadurch den letzten Ernst. Die Bedrohlichkeit des Finales - eine Mensch-Maschinen-Fabrik voller Irrer in weißen Kitteln, welche das Resultat der freien Verfügbarkeit über den menschlichen Körper demonstrieren könnten - verschüttet sich in Posen und Albernheiten.

Warum bloß? Kann denn in diesem Theater nicht einmal eine politische Debatte mit Vernunft und Zurückhaltung verarbeitet werden? Welchem Zwang unterliegt Stephan Barbarino, daß er jede Diskussion um unzweifelhaft wichtige Themen im Kalauer ertränken muß? Und wie soll man den Spruch auf dem Programm-Heft verstehen? „Dr. Körner rät: Wie beseitigt man unauffällig Zuschauer.“ Als Orakel?

Till Briegleb