"Chaos-Alternative"

■ Interview mit dem Medienwissenschaftler H. M. Kepplinger

taz: Wenn wir Sie um einen Vortrag zum Thema „taz und Alternativpresse“ bitten würden: Käme da ein Nachruf heraus?

Hans Martin Kepplinger: Die Alternativpresse im Sinne einer Subkulturszene im Stadtteil hat sich tatsächlich bis auf wenige Reste verloren. Die taz dagegen ist Alternative zur bestehenden Presse. Das geht nicht zu Ende.

Anfangs hat die taz Themen wie Ökologie und Feminismus in die breitere Öffentlichkeit gebracht. Darüber schreibt heute jede Zeitung. Zeichnen sich für die taz neue Themen ab?

Themen sind kein Abbild der Probleme, da muß noch Problembewußtsein hinzukommen. Die taz und andere haben seinerzeit das Problembewußtsein von Minderheiten kommunizierfähig gemacht, im Laufe der Zeit auch einen Zwang auf andere Medien ausgeübt, diese Themen unter ähnlicher Perspektive zu sehen. Ich sehe nicht, daß in neuen Feldern ähnliches Problembewußtsein entstanden ist. Nehmen Sie die Ausgrenzung der älteren Generation aus der Gesellschaft – dafür gibt es kein Problembewußtsein.

Wie hat die taz in diesen 15 Jahren gewirkt, auch indirekt über die linksliberale Presse, die ja eifrig taz liest?

Auch die rechten Journalisten lesen taz, das haben wir kürzlich erst in einer Studie festgestellt. Um auf die Öffentlichkeit direkt zu wirken, ist die Auflage zu gering. Den Einfluß auf den Journalismus aber halte ich für erheblich. Zum einen hat die taz eine andere Art von Zeitungssprache salonfähig gemacht, sie hat die Routinesprache aufgebrochen. Zum anderen hat sie mit ihren Themen zwei Dinge erreicht: sie hat das Spektrum nach links erweitert, über die Frankfurter Rundschau hinaus. Und – noch wichtiger – sie hat auch die Linke in Frage gestellt.

Primär doch die Rechte.

Natürlich, aber das ist trivial. In den späten Achtzigern und dann während der deutschen Vereinigung besteht der interessantere Beitrag der taz darin, daß sie den selbstgefälligen Immobilismus in der Linken aufgebrochen hat.

Dafür bekommen wir jetzt häufiger zu hören: Na, der Artikel gehört doch eigentlich in die FAZ.

Ich halte es gerade für richtig – nicht nur für die taz –, daß in Teilen der Intelligenz dieses trostlose und langweilige Lagerdenken aufgebrochen ist. Bis 1989 genügte es, einige Reizworte loszuwerden, und dann wußte man: Der steht dort, mit dem will ich nichts zu tun haben, und das ist einer von uns.

Spielt die FAZ die gleiche Rolle in der Rechten?

Ja, auch die FAZ hat viel mehr Ecken und Kanten als vor fünf Jahren. Aber das ist kein isolierter Prozeß in der Presse, in den Sozialwissenschaften und in der Politik sieht es genauso aus. Die taz hat da eine Wegweiserrolle.

Aber wenn die gleichen Autoren mal hier, mal dort schreiben, gehen uns auch die festen Leser verloren.

Aus der Sicht der Macher ist das ein Problem. Originell zu sein ist viel schwieriger, als die richtige Gesinnung zu zeigen. Aber publizistisch ist es positiv, daß es für Zeitungen oder auch Fernsehanstalten immer schwieriger wird, durch Gesinnung allein einen festen Stamm von Anhängern zu finden. Um intellektuell interessant zu sein, muß eine Zeitung tatsächlich riskieren, die Masse ihrer Leserschaft zu düpieren.

Die taz hat ihre Auflage von 20.000 auf 60.000 gesteigert. Das ist wenig im Vergleich zu La Repubblica in Italien oder der französischen Libération, die beide in den achtziger Jahren zu großen nationalen Zeitungen wurden.

Von Anfang an hat die taz ihr Image aufgebaut: „Wir sind die publizistische Chaos-Alternative.“ Für die primäre Zielgruppe war das förderlich, aber dadurch ist die taz kaum an die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft herangekommen – von Randbereichen abgesehen. Wenn sie Entscheidungsträger erreicht, dann nur über den Umweg von Fernsehen oder Spiegel.

Es gibt noch andere Schranken: In Berlin, wo sie gemacht wird, verkauft die taz nur ein Viertel ihrer Auflage.

Paris hat zehn Millionen Einwohner mit einer dichten Intelligenzschicht. In Italien konzentriert sich alles auf Mailand und Rom, den Rest können Sie vergessen. Dieses Milieu hat damals in Berlin gefehlt – und es fehlt der taz noch immer.

Kann die taz in zehn Jahren Ihrer Meinung nach eine richtige Hauptstadtzeitung sein?

Das intellektuelle Leben in der Bundesrepublik wird sich in Zukunft weitaus vielfältiger, bunter und interessanter entwickeln als in den achtziger Jahren. Nur ist Berlin ein träger Tanker, zehn Jahre wird es schon dauern. Wenn die taz die übersteht, kann sie eine enorm bedeutsame Rolle spielen. Interview: Michael Rediske

Professor Kepplinger ist Geschäftsführender Leiter des Instituts für Publizistik an der Universität Mainz.