Lenden-Erziehung

■ High camp: Ein Roman des Schauspielers Stephen Fry

Britische Rezensenten feiern in Stephen Fry den würdigen Erben heimischer Humoristik in der Manier von P. G. Wodehouse, versetzt mit einem Hauch Oscar Wilde; britische Leser erwarben bislang mehr als eine halbe Million Exemplare seines Erstlingsromans „Der Lügner“. Man muß sich allerdings fragen, ob das Leserinteresse mehr dem Autor oder seinem Werk gilt. Denn der talentierte Mr. Fry ist auch Schauspieler und Komiker, und zumindest im Vereinigten Königreich ist es nicht ganz einfach, Stephen und seinen Freunden zu entrinnen. Kinogängern ist Stephen Fry in der Rolle des aidskranken Landjunkers Peter in Erinnerung („Peter's Friends“, von Kenneth Branagh).

Und nun auch noch ein Roman. Der, das sei sofort gesagt, alle Stärken des Komikers mit den Schwächen des Autors konfrontiert. Fry, der Komiker, hat Sprachwitz und Talent für absurde Situationen: Im „Lügner“ gelingen ihm Episoden von großer Komik, manches davon high camp und herrlich manieriert; man wünscht sich, der Roman wäre eine Fernsehserie. Da käme schön zur Geltung, wie Fry mit den wechselnden Rollen seines in der Identitätsfindung verwirrten Helden Sprechweisen und literarische Genres wechselt. Fast jede Figur zeichnet sich durch einen genau beobachteten, häufig klassenspezifischen Sprachstil aus, wie er in dieser Nuancierung wohlnur in Großbritannien zu haben ist. Auch bei einer so wendigen Übersetzung wie der vorliegenden muß da einiges schlicht verlorengehen. Die Anmerkungen am Schluß des Buches helfen aber manche britischen Idiosynkrasien klären.

Die Schwäche des Autors Fry liegt in der betont anspruchsvollen Erzähltechnik, die große Komplexität der Handlung vortäuscht, wo eine amüsante Nummernrevue abläuft. Sieht man von den Kehrtwendungen und falschen Fährten einmal ab, die natürlich nicht verraten werden sollen, erzählt Fry eine ganz einfache Geschichte. „Der Lügner“ spielt in jener heroischen Zeit der Ära Thatcher, als Fry und sein Held Adrian Healey Privatschulen besuchten und ihr Studium in Cambridge absolvierten. Fry spielt mit all den Mythen eines England der Männerbündelei, der Klassenschranken, der Doppelmoral und der obskuren gesellschaftlichen und akademischen Rituale, die dem Kontinentaleuropäer so unendlich klischeehaft anmuten. Parodistisch dargeboten, sind sie durchaus amüsant.

Zu Beginn des Romans schreiben wir das Jahr 1973, „und Mädchen waren noch nicht erfunden worden“. Daher wird in der éducation sentimentale des Helden auf ihren Einsatz auch weitgehend verzichtet; ein vollständiger Verzicht wäre weiser gewesen, entfaltet doch die exklusive Männerwelt der Internate und Colleges ihren ganzen Reiz vor allem in der Abwesenheit weiblicher Wesen. Adrians heterosexuelle Erfahrungen wirken mehr wie ein Zugeständnis an einen größeren Leserkreis. Denn wie sagte Frys Filmfigur Peter ebenso höflich wie bestimmt zu der ihn mit eindeutiger Verführungsabsicht aufsuchenden Emma Thompson: „Ich fürchte, ich bin nicht im Vagina-Geschäft.“ Eben. Wesentlich amüsanter ist es, wenn die Handlung Edith Cressons notorische Behauptung, fünfzig Prozent der männlichen Bevölkerung Großbritanniens seien homosexuell, noch überbietet und Adrian alle Vorteile einer englischen Privatschulerziehung angedeihen läßt, besonders „im Bereich seiner Lenden“.

Ein pornographischer Dickens

„Eine ganz normale Schulzeit“, wie auch sein Patenonkel Sir David Pearce findet, die durch einen Artikel in der illegalen Schülerzeitung „Bullochse“ eine abrupte Wendung zu staatlicher Erziehung nimmt und über Hilfslehrertätigkeiten schließlich an das St. Matthew's College in Cambridge führt. Beim Bewerbungsgespräch findet Adrian endlich jemand, der sein von „Verstellung und Fälschung“ geprägtes Wesen zu schätzen weiß: Donald Trefusis, Professor für Linguistik. Der hält Adrian für einen „Schwindler, ein(en) Scharlatan und ein(en) Bluffer“ und fordert ihn auf, eine Arbeit abzuliefern, die „den Keim einer Neuigkeit (...), den Geist eines Splitters eines Fünkchens einer Zelle einer Spur eines Jotas eines Schattens eines Teilchens von etwas Interessantem und Herausforderndem, etwas Amüsantem und Erstaunlichem“ enthält. Woraufhin Adrian unter Zuhilfenahme des universitären Fundus von Pflichtexemplaren pornographischer Literatur drei Kapitel eines Dickens-Romans fälscht und dabei rezente Reizthemen wie Kindesmißbrauch, aber auch Adrians unglückliche Liebe zu seinem Mitschüler Cartwright verarbeitet. Das Manuskript wird von seiner über „abweichende Formen viktorianischer Ethik“ forschende Freundin Jenny „gefunden“. „Peter Flowerbuck“ verhilft dem von Thatchers Antiintellektualität finanziell arg gebeutelten College zu neuen Mitteln und Fry zu einigen glänzenden Parodien akademischer Diskurse und der political correctness-Debatte.

Dem Leser wird spätestens nach dieser Episode klar, daß Fry in seinen Drehpausen keine Zeit verschwendet. Er ist nicht nur mit David Lodge den Absurditäten des Wissenschaftsbetriebes auf der Spur, sondern verarbeitet auch das liebste Steckenpferd neuerer Literaturproduktion, die Fiktionalisierung der Fiktion. Und so versucht er sich am Ende sogar im Genre des Spionageromans. Kursiv gedruckte Einschübe zwischen den biographischen Kapiteln vermitteln den Eindruck einer großangelegten Verschwörung. Hier tauschen anonyme „Tweedjacken“ mit „St.-Matthew's-Krawatten“ der „Odyssee“ entnommene Codenamen aus und munkeln über finstere Machenschaften ungarischer Schachmeister; es geschieht ein spektakulärer blutiger Mord im Salzburger Mozartmuseum, und an Autobahnraststätten verschwinden Aktentaschen. Im Zentrum des mysteriösen Geschehens steht natürlich Adrians Tutor Trefusis, denn: „Mein lieber Freund, es gibt keinen Don über sechzig, dem man nicht nachsagen würde, der vierte, fünfte, sechste oder siebte in einem unwahrscheinlichen Kreis aus Spionen, Doppelagenten und unbarmherzigen Verrätern zu sein.“

Tatsächlich führen die Spuren zurück nach Bletchley, dem Ort, an dem englische Intellektuelle im Zweiten Weltkrieg mit dem Knacken der deutschen Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ beschäftigt waren, und enden schließlich bei einem hochbrisanten „Lügendeflektor“ namens „Mendax“, einer Maschine, die zur Wahrheit zwingt ...

Am Ende ist dies ein cleveres und witziges Buch, wenn auch kein guter Roman. Was man unter gar keinen Umständen aus den Augen verlieren sollte, ist das der Handlung vorangestellte Motto: „Kein Wort des Folgenden ist wahr.“ Stephanie Tasch

Stephen Fry: „Der Lügner“. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Haffmans Verlag 1994, 313 Seiten, geb., 36 DM