Wo ist der Gleichgewichtspfad?

Claus Offes Erkundungen im verminten osteuropäischen Gelände fördern deprimierene Ergebnisse zutage / Vom Nutzen und Nachteil sozialwissenschaftlicher Verallgemeinerungen  ■ Von Christian Semler

Theorien übers „Ganze“ sind rar. Das trifft verschärft auf die ehemals realsozialistischen Übergangsgesellschaften im Osten und Südosten Europas zu. Statt der einstmals beliebten Strukturanalysen, die die Identität oder doch wenigstens Ähnlichkeit der Problemstellungen in allen Partei-Staaten des sowjetischen Typus aufwiesen, ist heute eine gleichzeitig spezifizierende und historisierende Betrachtungsweise en vogue. Insbesondere der Journalismus, der täglich frische Brötchen backen muß, hat sich der Vorstellung anbequemt, daß der sichere Anker in der Erscheinungen Flucht die Konstanten sind, die Geschichte und „geopolitische“ Lagen jedem einzelnen Land, wenigsten aber jeder Region vorgeben. Fast scheint es, als ob nicht nur jede Epoche, sondern auch jede Nation „unmittelbar zu Gott“ sei.

Claus Offe zeigt in seiner jetzt veröffentlichten Aufsatzsammlung „Der Tunnel am Ende des Lichts“ (der Titel geht auf ein Bonmot polnischer Herkunft zurück) erfreulicherweise überhaupt keine Hemmungen, im „wilden Osten“ mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Kategorien zu navigieren – und dies auch noch mit der Absicht, zu verallgemeinern. Seine Arbeiten, obwohl zu unterschiedlichsten Anlässen in den vergangenen vier Jahren entstanden, zeichnen sich durch Kohärenz der Problemstellungen, analytische Schärfe, eine geradezu diabolische Lust am Aufweis unlösbarer Paradoxien und – last but not least – durch eine Formulierungskunst aus, die bei seiner Zunft nicht eben verbreitet ist. Offe arbeitet im engen Verbund mit Theoretikern wie Jon Elster oder Adam Przeworski, die die Probleme der „Übergangsgesellschaften“ nicht aus einem verengten ökonomischen Blickwinkel analysieren, sondern mit dem Anspruch, ein komplexes Bild der gelingenden bzw. scheiternden „Integration“ nachsozialistischer Gesellschaften zu zeichnen.

Die Beschränkung Offes auf den angelsächsischen Diskurs (einschließlich osteuropäischer Autoren, die in den USA publizieren) hat freilich offensichtliche Nachteile: Was eine Reihe wichtiger Sozialwissenschaftler aus dem Osten zu sagen haben, bleibt ausgeblendet. Über osteuropäische Debatten, beispielsweise zur Privatisierung, zur neuen „Unternehmerklasse“ oder zu den Bedingungen für einen „Sozialpakt“ werden wir nicht unterrichtet. Zwischen ingeniösen Beobachtungen und begrifflicher Anstrengung klafft oft eine empirische Lücke. Rußland schließlich findet bei Offe nur in Randbemerkungen sein Plätzchen. Dafür bezieht Offe die ehemalige DDR (GDR gleich Geltungsbereich der deutschen Reichsbahn) in die vergleichende Analyse ein – mit deprimierenden, durch die geschichtliche Entwicklung seit 1990 bestätigten Ergebnissen.

Kern- und gleichzeitig Glanzstück von Offes Arbeit sind die Kapitel, die vom „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ in den nachkommunistischen Gesellschaften, von der Notwendigkeit/Unmöglichkeit einer wohlfahrtsstaatlichen Politik und von der „Ethnisierung“ der politischen Beziehungen im östlichen Europa handeln. Der Entwicklungsweg der westlich-kapitalistischen Industriegesellschaften durchläuft nach Offe drei zeitlich auseinandergezogene Phasen: die der nationalstaatlichen Identitätsbildung, die, in der sich der institutionelle Verfassungsrahmen herausbildet und schließlich die Phase, bei der es um politische Entscheidungsbefugnisse und den Kampf um materielle Ressourcen geht. Das Drama der osteuropäischen Transformationsperiode bestehe nun darin, daß diese drei skizzierten Etappen gleichzeitig bewältigt werden müssen, was nahezu unausweichlich zu wechselseitigen Blockaden führt.

Einerseits, so lehrt die Erfahrung, setzt eine Demokratie, in der sowohl Kampf der Interessen wie Kompromisse möglich sind, die entwickelte Marktgesellschaft bereits voraus. Andererseits ist in Osteuropa die kapitalistische „Wende“ ein politisches, d.h. auch politisch legitimationsbedürftiges Unternehmen. Die Demokratie ist also die Voraussetzung der wirtschaftlichen Umgestaltung. Wie aber kann sich die Demokratie angesichts einer Gesellschaft etablieren, die nicht nur durch zunehmende Massenarmut, sondern vor allem durch ihren „amorphen“ Zustand gekennzeichnet ist? Nach Offe fehlt es am „zivilgesellschaftlichen“ Unterbau, an Vereinigungen und Verbänden, in denen sich Selbstvertrauen und Zuversicht sammeln kann, die Interessen artikulieren, Kompromisse erzwingen und so einer „Ökonomie der Geduld“ zum Durchbruch verhelfen. Aber wie soll sich aus der atomisierten Sozialstruktur, die der Realsozialismus hinterlassen hat, so rasch dieses gesellschaftliche Gewebe bilden? Schlechte Nachrichten, falls Offe recht hat. Der Rezensent, in den 80er Jahren enthusiastischer Anhänger der in Osteuropa gegen den Partei-Staat geknüpften Netze der „Civil Society“, nimmt die von Offe präsentierten Fakten und Schlußfolgerungen zähneknirschend zur Kenntnis.

Wir alle sind gewohnt, den im ehemals realsozialistischen Machtbereich endemisch um sich greifenden Nationalismus als das schlechthin Vormoderne, als Rückfall in den Irrationalismus zu begreifen. In seinem Aufsatz zur „ethnischen Politik“ weist Offe in einer breitangelegten Argumentation nach, daß es sehr wohl Elemente des rational choice, also vernunftgeleitete Kalküle sind, die die Machteliten zu ihrer ethnozentrierten Propaganda, zur Praxis der Ausgrenzung und Purifizierung führten. Aber, anders als zunächst vermutbar, erleichtert dieser Umstand keineswegs die Ausarbeitung von Gegenstrategien. Sowohl was mögliche Verfahren der Konfiktschlichtung anlangt als auch mögliche (individual- oder minderheitenrechtliche) Lösungen, Interventionen „von außen“ oder „Selbstheilungskräfte“ im Innern – Offe sieht keinen praktikablen Ausweg. Ein schwacher Trost, daß er kollektive Lernprozesse wenigstens nicht gänzlich ausschließt.

Wir haben hier einen Autor vor uns, dem Triumphalismus angesichts des realsozialistischen Zusammenbruchs ebenso fern liegt wie die beleidigte Ranküne eines um seine Hoffnung betrogenen Linken. Der kühle Blick des Sozialwissenschaftlers schließt Engagement nicht aus. Für das Schicksal der Demokratie in Ost- und Südosteuropa sind wir, so Offe, alle verantwortlich, wie wir auch im Falle ihres Scheiterns alle die Folgen zu tragen haben werden.

Claus Offe: „Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im neuen Osten“. Campus, Frankfurt/Main 1994, 301 Seiten, 39,80 DM