Paul Touvier: Ein Nazi à la française

Gestern ging der Prozeß gegen den französischen Nazi-Kollaborateur zu Ende / Verteidiger beleidigten Überlebende, Richter ermahnten den Angeklagten / Urteil am 20. April  ■ Aus Versailles Dorothea Hahn

Der alte Mann schlurft langsam auf die beiden Polizisten zu. Wie jeden Mittag um halb zwei streckt er ihnen wortlos die Arme entgegen, läßt sich die Handschellen abnehmen und wuchtet sich in den Drehsessel hinter den kugelsicheren Glasscheiben. Er trägt dasselbe grüne Jackett und dasselbe weinrote Polohemd wie bei Prozeßbeginn. Der wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ angeklagte Paul Touvier hat sich seit vier Wochen nicht umgezogen.

An die 30 ZeugInnen sind in dieser Zeit vor dem Gericht in Versailles erschienen – ehemalige Widerstandskämpfer aus der Résistance, ehemalige KollaborateurInnen mit den deutschen Besatzern, Historiker, PolitikerInnen und Priester. „Nur für dieses Verfahren habe ich so lange gelebt“, sagt ein weißhaariger Angehöriger von Touviers Opfern.

Das Verbrechen, worüber die drei Richter und neun Geschworenen in der kommenden Woche ihr Urteil fällen, geschah vor beinahe fünfzig Jahren. Am 29. Juni 1944, im Morgengrauen, erschossen Milizionäre sieben jüdische Männer an einer Friedhofsmauer in Rillieux-la-Pape, einem Vorort von Lyon. Die Miliz, das französische Pendant zur Gestapo, hatte die Männer Stunden zuvor aus ihren Wohnungen und Arbeitsstätten abgeholt. Sie wollten das Attentat vom Vortag in Paris gegen den Informationsminister des Vichy-Regimes, Philippe Henriot, „vergelten“. Verantwortlich für die Morde war „Chef Paul“, alias Touvier, der die „Aufklärung“ der Miliz in Lyon leitete.

„Nein“, widerspricht „Chef Paul“ mit seiner schwachen Altmännerstimme vor dem Gericht in Versailles, „verantwortlich war London“. „London“, das war zu jener Zeit der Sitz der Exilregierung von Charles de Gaulle, oberster Befehlshaber der Résistance. Weil „London“ das Attentat gegen den Vichy-Minister organisiert habe, sei die Miliz ihrerseits gezwungen gewesen, die sieben Männer hinzurichten, sagt Touvier. Verantwortlich waren seines Erachtens auch „die Deutschen“, die der Miliz gegenüber den Wunsch nach Vergeltung geäußert hätten, auch wenn sie keinen ausdrücklichen Befehl gaben. „Die Deutschen“ waren damals, wenige Wochen nach der allierten Landung in der Normandie und kurz vor der Befreiung ganz Frankreichs, immer noch Besatzer in Lyon. Verantwortlich war laut Touvier schließlich sein direkter Vorgesetzter bei der Miliz, Victor de Bourmont. Denn der habe den Deutschen sein „Wort als Offizier“ gegeben, daß er sich um die Vergeltung kümmern werde.

Nur Touvier selbst, den seine Untergebenen und Gefangenen als unumstrittenen Chef am Lyoner Sitz der Miliz erlebten, war nicht verantwortlich. Für sich macht er die Logik des Befehlsempfängers geltend: „Ich habe nicht anders gekonnt.“ Mit der „Selektion“ – das Wort ist ihm herausgerutscht, als er den Lapsus bemerkt, sagt er hastig: „das war ein unglücklicher Begriff“ – der Opfer will er nichts zu tun gehabt haben. An den Hinrichtungen selbst will er nicht teilgenommen haben. Was er in jener Nacht tat, daran erinnert er sich nicht.

Dem 79jährigen kommt kein Wort des Bedauerns über die Lippen. Vier Prozeßwochen lang sitzt er in immer derselben Position in seinem Drehsessel, den Blick aus dem großen bleichen Gesicht starr an den Vorsitzenden Richter geheftet. Vor den Morden war Touvier beichten. Seinem Beichtvater, der ihn aufforderte, sich der Résistance anzuschließen, entgegnete er: „Das ist zu gefährlich für mich.“ Jahre später wird Touvier Messen für seine Opfer lesen lassen. „Katholische Messen für Juden“, wie er vor Gericht betont.

Von dem Antisemitismus des Vichy-Regimes will der Funktionär von Vichy nichts gewußt haben. Nichts von den „Juden-Statuten“, die Juden zum Tragen des gelben Sterns zwangen und das Wahlrecht entzogen. Nichts von den Deportationen in Vernichtungslager. „Es gab damals noch kein Fernsehen, wissen Sie“, sagt er. Die Parolen der Miliz – „nieder mit der jüdischen Lepra“ – nennt er „nichts als Worte“.

„Ich bin kein Antisemit“, sagt Touvier. Seine Tagebuchaufzeichnungen strafen ihn Lügen. Der Vorsitzende Richter liest Notizen aus den achtziger Jahren vor. „Jüdischer Dreck“, kommentierte Touvier handschriftlich ein Fernsehprogramm – „von amerikanischen Juden finanziert“ ein anderes. Über den Vorsitzenden der rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, schreibt er: „Endlich ein wenig frische Natur.“

„Chef Paul“ bestreitet, daß es am Amtssitz seiner Miliz, einer als Gefängnis genutzten Schule in Lyon, Folterungen gab. Als vier ehemalige Gefangene nacheinander im Zeugenstand von einer Elektroschock-Maschine berichten, sagt er: „Zehn Lügen machen noch keine Wahrheit.“ Dem SS- Mann und Gestapo-Chef Barbie, der Gefangene Touviers in den Räumen der Miliz verhörte, will „Chef Paul“ nie begegnet sein. „Sie waren der Chef“, weist der Vorsitzende Richter Touvier hin. Der antwortet: „Sicher.“ Der Richter schiebt nach: „Dann machen Sie sich nicht so klein.“

Aussitzen und auf das Vergessen warten – das sind Touviers Stärken. Beinahe fünfzig Jahre lang hat er sich versteckt. Zuerst in einem Haus seines Vaters in den französischen Alpen, später in Dutzenden von Klöstern, die ihn und seine Familie immer weiterreichten. Erst 1989 wurde er verhaftet. Die Polizei fand ihn in der Saint-François-Abtei in der Altstadt von Nizza. – „Ein gewisser Fanatismus ist nötig, um so lange im Untergrund zu bleiben“, urteilt ein Psychiater vor Gericht. Touviers Familie – die Lebensgefährtin Monique Berthet, und die beiden heute über 40jährigen Kinder Chantal und Pierre Berthet – ist eine eingeschworene Gemeinschaft. Vor Gericht sprechen die drei ausschließlich in der Wir- Form. Dem Vater zuliebe verzichteten die Kinder auf einen Beruf. Sie leben – wie er – von der Unterstützung aus Kirchenkreisen. Seine Verfolgung finden sie „ungerecht“. Für sie ist der Holocaust eines von vielen Greueln des Krieges.

Als vor vier Wochen das Verfahren gegen den mutmaßlichen „Verbrecher gegen die Menschlichkeit“ begann, war die Aufregung groß. Touvier ist der erste Franzose, der dieses nicht verjährbaren Verbrechens angeklagt wird. Nur ein Mensch wurde biser deswegen in Frankreich verurteilt: der Deutsche Klaus Barbie, bekannt als „Schlächter von Lyon“.

Touvier – mit seinem Ruf als Dieb, Hehler und Zuhälter, und seiner vergleichsweise niedrigen Position im Vichy-Regime – war nicht der Wunschangeklagte der Vereinigungen von ehemaligen Résistance-KämpferInnen und jüdischen Organisationen. Sie hätten einen der führenden Köpfe des Vichy-Regimes vorgezogen, um die französische Verantwortung für Kollaboration und Holocaust zum Thema zu machen. Doch der aussichtsreichste Kandidat dafür entkam ihnen im vergangenen Jahr: René Bousquet, Ex-Polizeichef von Vichy, wurde in Paris auf offener Straße erschossen. „Vichy vor Gericht“ und „der Prozeß der Franzosen“ lauteten die Überschriften zu Beginn des Touvier- Prozesses. Zeitungen machten Sonderbeilagen. Das Fernsehen engagierte Prominente als tägliche Prozeßkommentatoren. Geschichtsunterricht gewann den Rang von Tagesaktualität. Der Sozialist Attali regte an, daß Frankreich das Vichy-Regime endlich als Teil seiner Geschichte begreifen möge, nicht als auszuklammernde Randerscheinung, mit der die Republik nichts zu tun habe.

Vier Wochen später ist es auf der eigens für den Prozeß gebauten Pressetribüne leer geworden. Laurent Greilsamer von Le Monde, der ein Standardwerk über den Fall geschrieben hat („Un certain Monsieur Paul“, ed. Fayard, Paris, 1994), ist mit seinen Prozeßnotizen bei Kladde Nummer fünf angelangt. Auch ein paar seiner KollegInnen schreiben noch täglich Chroniken aus dem Gerichtssaal. Aber das Thema ist von den Titelseiten der Zeitungen nach hinten gerutscht. Aus den Fernsehnachrichten ist es verschwunden.

„Die Miliz steht hier nicht vor Gericht“, betont Jacques Tremolet de Villers immer wieder. Der 50jährige Verteidiger von Touvier, dessen Schrift „Touvier ist unschuldig“ auf den Büchertischen der Front National ausliegt, findet das Verfahren „sehr schlecht für mein Land und für die Kirche“. Es breche alte Gräben des Hasses auf.

Seinem Mandanten zuliebe beleidigt der Verteidiger die Opfer. Einer der Toten von Rillieux-la- Pape war wenige Stunden zuvor mit einem Paß ohne Judenstempel verhaftet worden. „Er hatte gefälschte Papiere“, ruft Tremolet in den Gerichtssaal. Ähnlich springt er mit Zeugen um. Einen ehemaligen Résistance-Kämpfer, dem die Flucht vor der Miliz gelang, will er in die Ecke eines Agenten drängen: „Wie sonst hätte er so leicht entkommen können?“ Die in der Milizhaft erlittene Folter eines Zeugen bezeichnet er als „mäßige Qual“.

Eine „Jagd auf Juden“, wie die Angehörigen der Opfer konstatieren, hat es laut Tremolet in Frankreich nicht gegeben. Daß alle sieben Toten von Rillieux-la-Pape Juden waren, bezeichnet er genau wie sein Mandant als „Zufall“. Tremolets Credo: „Vichy hat nicht an der Endlösung partizipiert.“

Wenige Tage vor der Urteilsverkündung am 20. April – ein Datum, das in Frankreich nicht als belastet gilt – ist der „Prozeß der französischen Geschichte“ eine langatmige, zähe Verhandlung geworden. Nach den Zeugen haben jetzt die AnwältInnen der NebenklägerInnen das Wort. Sie erklären, daß Rillieux-la-Pape und die ethnischen Säuberungen in Bosnien miteinander zu tun haben. Und daß der Antisemitismus nie ganz verschwunden ist. Mehrere Dutzend Stunden sind für die Plädoyers nötig. Zwei Journalisten im Saal sind eingeschlafen. Immer wieder übertönt lautes Tuscheln die Verhandlung.

Touvier ist „ein Nazi à la française“, sagt Anwalt Levy. Er stellt die Gleichung von dem französischen Gegenstück zu Barbie auf. Tatsächlich haben sich beide, der französische Milizionär und der deutsche SS-Mann, jahrzehntelang versteckt, aus rassistischem und religiösem Haß gehandelt, ihre Taten geleugnet und nie bereut. Beide kamen erst in hohem Alter und bei schlechter Gesundheit vor Gericht. Barbie wurde kurz vor seinem Tod 1987 verurteilt. Touvier hat ein Krebsleiden.

Touvier gehört der „politischen Unterwelt“ an, erklärte hingegen Staatspräsident François Mitterrand in einem Interview. Mit dem ermordeten Vichy-Polizeichef Bousquet, „dem Prototyp des hohen Funktionärs, der kompromittiert wurde oder sich kompromittieren ließ“ habe dieser Mann „niederen Charakters“ nichts gemeinsam. Die Absolution von höchster Stelle kurz vor der Urteilsverkündung öffnet den Franzosen die Rückkehr zum Normalzustand. Touvier, das war die Ausnahme – ein einfacher Krimineller. Vichy, die Kollaboration, der Holocaust – das alles war bestenfalls eine Fußnote der Geschichte.

Der alte Mann in dem grünen Jackett und dem weinroten Polohemd hat sich längst wieder in das Schweigen zurückgezogen, in dem er seit Jahrzehnten lebt. Ohne eine Miene zu verziehen, wohnt er dem Ende seines eigenen Prozesses bei, als ginge ihn das alles nichts an.