Schuld und Ruinen

■ Sigrid Baehrs Roman „Kopfstein“: Leben im zerstörten Bremen

Es ist eine bizare Ruinenlandschaft, die der ehemalige Sanitätsoffizier Karl vorfindet, als er nach dem Zweiten Weltkrieg in seine Heimatstadt Bremen zurücckehrt. Seine Frau ist ihm ebenso fremd geworden wie sein früheres Leben. Seinen kleinen Sohn sieht er zum ersten Mal. Der Krieg ist vorbei, doch in seinem Kopf toben die Schrecken der Erinnerungen, das sinnlose Wüten der Wehrmacht, die Massaker an den Juden, die Schreie der Opfer, die zerfetzten Leiber der Toten. Schuldgefühle und die Unfaßbarkeit des Geschehenen beherrschen sein Innenleben.

Die Geschichte des aus Rußland zurückkehrenden Wehrmachtsoldaten Karl erzählt die Schriftstellerin Sigrid Baehr in ihrem Erstlingswerk „Kopfstein“. Der Roman ist ein Mosaik aus Realität und Traum, inneren Gedankenstürmen und alltäglichen Gesprächen. Bremen liegt in Trümmern, es wird gehungert und Schlange gestanden, gehamstert, aufgeräumt und vor allem: vergessen. Niemand will daran erinnert werden, wo die jüdischen Nachbarn geblieben sind und was man ihnen angetan hat. Verschwunden ist auch die Erinnerung daran, wer diesen Krieg begonnen hat und ausgezogen war, die Welt zu erobern. Nicht vergessen wird allerdings das eigene Leiden, die Bombennächte, die Flammen, die Toten. Schnell fühlen sich die Nachkriegsdeutschen als die eigentlichen Kriegsopfer, sehen die Besatzer als die eigentlichen Täter an, die Juden als die eigentlichen Drahtzieher der Schande. „Also, das Judenproblem, das hätte er anders lösen sollen. Wie stehen wir jetzt da, mit einer solchen Hypothek. - Ich hab's ja immer gewußt, die Juden sind unser Unglück“, läßt Sigrid Baehr den Volksmund sprechen.

Der Krieg ist vorbei, die Nazi-Parolen sind lebendig. Selbstmitleid und die Verlogenheit der „Vergangenheitsbewältigung“ sind die Wegbereiter des neuen Deutschlands. Und dann: der erste „Freimarkt“ in Bremen. Die amerikanische Besatzungsmacht erlaubt ihn noch im selben Jahr, in dem sie die Deutschen besiegt hat. „Und so zogen die Bremer, dankbar allen und jedem für alles und jedes, wie ein Haufen adoptierter Vollwaisen durch den engen Gustav-Deetjen-Tunnel ins Rummelparadies und staunten über langvermißte Düfte.“ Man feiert die Rückkehr einer scheinbaren Normalität.

Die Autorin Sigrid Baehr, Jahrgang 1945, ist selbst ein Nachkriegskind, aufgewachsen in den langsam verschwindenden Trümmern des zerstörten Bremens. Ihre Kindheitserinnerungen spiegeln sich in der Gefühlswelt des kleinen Peter, Karls Sohn, wider: die Ruinen als aufregender Abenteuerspielplatz, der fremde und befremdliche Vater, und ein Krieg, den man nicht selbst erlebt hat und der doch ständig präsent ist.

„Kopfstein“ verbindet gängige Klischees über die Nachkriegszeit mit dem Versuch, einen heimkehrenden Soldaten und ehemaligen NS-Parteigänger zu begreifen; einen Heimkehrer, der mit seiner Schuld nicht fertig wird, dessen Schuldbekenntnis jedoch niemand hören will. Sigrid Baehr gelingt es mit Biß und Eleganz, aber auch mit schonungsloser Härte, die Nachkriegsbremer zu portraitieren: die menschlichen Überreste einer kollektiven Zerstörungswut.

Silke Mertins

Sigrid Baehr: Kopfstein. Luchterhand Verlag, 1993. 32 Mark