Dem Erdboden gleichgemacht

Horizontale Schnitte, lichtdurchdrungene Kathedralen: Eine Berliner Galerie zeigt ausgesägte Fassadenteile, Papierarbeiten und Videodokumentationen von Aktionen des 1978 verstorbenen Künstlers Gordon Matta-Clark  ■ Von Ulrich Clewing

Das Städtchen Englewood in New Jersey ist einer der typischen Vororte von New York. Fein säuberlich gepflegte Grünanlagen, vier Einkaufszentren, fünf High- Schools, dreimal soviel Sportplätze – und Eigenheime, soweit das Auge reicht. Wer hier wohnt, nur eine gute Viertelstunde Autofahrt von der Bronx entfernt, hat die Friedhofsruhe teuer bezahlt.

Einmal nur, im August 1974, sollte Englewood in die Schlagzeilen geraten. Die Galeristen Holly und Horace Salomon hatten dem Bildhauer, Performancekünstler und studierten Architekten Gordon Matta-Clark dort im Frühsommer desselben Jahres ein Abbruchhaus für eine Kunstaktion zur Verfügung gestellt.

In wochenlanger Arbeit und bloß mit einer Kreissäge ausgerüstet teilte Matta-Clark das einstöckige Gebäude vom Dach bis zum Fundament in zwei Hälften: ein Bild wie aus einem surrealistischen Traum. Mit der Aktion „Splitting“ wurde der damals 31jährige Künstler schlagartig international bekannt, obwohl die so in eine monumentale Skulptur verwandelte Architektur nur wenige Tage existierte. Kurz nach Beendigung der Arbeit wurde das Haus dem Erdboden gleichgemacht. Von der Aktion sind lediglich ein paar Fotos, ein Videofilm und die vier Ecken des Daches übriggeblieben, die Gordon Matta-Clark in einem zweiten Anlauf kurz vor dem Abriß herausgeschnitten hatte.

Die Arbeit „Splitting/Four Corners“ war im vergangenen Jahr bei Franck + Schulte in Berlin zu sehen. Nun zeigt die Charlottenburger Galerie die Überreste eines vergleichbaren bildhauerischen Brachialaktes: Bingo – drei, insgesamt etwa sieben Meter lange Teile der Fassade eines verlassenen Farmarbeiterhauses in Niagara Falls. Ursprünglich hatte Matta- Clark das Gebäude auf zwei Seiten öffnen wollen, damit „das Licht durch das Haus scheinen“ könne. Doch dafür reichte die Zeit nicht mehr, die Abbruchfirma kam pünktlich. Daraufhin kippte Matta-Clark fünf der acht bereits ausgesägten Fassadenteile unmittelbar nach der Aktion als „Kunstmüll“ einen nahegelegenen Abhang hinunter, die restlichen drei stehen jetzt in der Galerie.

Doch bei Matta-Clark sind selbst diese Reste von umwerfender Wirkung. Unweigerlich sucht man nach Spuren der ehemaligen Bewohner, inspiziert die schmalen, nur aus einer Holzkonstruktion und einer dünnen, wie Teig zwischen den Latten hervorquellenden Schicht Putz gebauten Wände. Wie ein Gerichtsmediziner das Mordopfer seziert man die hyperrealistischen Mauerteile. Und nur zu gerne würde man das seit zwanzig Jahren halb geöffnete Fenster schließen. Oder man verliert sich in der Betrachtung des abgeplatzten Farbanstrichs, eine Treppe wird zu einem zwei Zentimeter tiefen Relief, die durchschnittene Zwischendecke zu einer rhythmisierten, minimalistischen Plastik.

In ihrem monumentalen Gestus ist die zersägte Wand Teil eines der Land-Art ähnlichen künstlerischen Gesamtentwurfs. Kein Wunder: Matta-Clark war, bevor er seine eigenen Projekte in Angriff nahm, einige Zeit lang Assistent von Robert Smithson und Christo. Nur daß Matta-Clark die Land-Art zurück in die Städte übersetzte. Auch verstand der Sohn des chilenischen Surrealisten Roberto Matta Enchaurren seine Arbeit in hohem Maße politisch. Für ihn war die Architektur der Städte und ländlichen Ballungsgebiete Sinnbild der Vereinzelung des Menschen, Ausdruck von dessen Degradierung zum Arbeiter- Konsumenten. Dieses System buchstäblich zu durchdringen und damit zu konterkarieren war Matta-Clarks ausdrückliches Anliegen. Später, in Paris, fräste er konzentrische Kreisformen in ein barockes Mietshaus, das kurz darauf dem gefräßigen Centre Pompidou zum Opfer fallen sollte („Conical Intersect“, 1975). In Antwerpen verwandelte er ein fünfstöckiges Haus durch eine Vielzahl senkrechter und horizontaler Schnitte in eine lichtdurchflutete Kathedrale – eine Zeichnung mit anderen Mitteln.

Am deutlichsten wird diese Eigenschaft in den ebenfalls bei Franck + Schulte ausgestellten Papierarbeiten. Begonnen hatte Matta-Clark, der 1978 35jährig an Krebs starb, als Happening-Künstler und Performer. Anfang der siebziger Jahre hatte er unter der Brooklyn-Bridge Autowracks gestapelt („Jacks“, „Wagenheber“), oder eine „Müllmauer“ errichtet. Mit Freunden, darunter Laurie Anderson und Dan Graham, führte er in Soho das Restaurant „Food“, Schauplatz zahlreicher Koch-Performances. Dies kommt in der Ausstellung bei Franck + Schulte, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Aber immerhin können dort die Videodokumentationen angesehen werden, die vielleicht eindrücklichsten Zeugnisse von Matta-Clarks Arbeit.

Bis 23.4., Galerie Franck + Schulte, Mommsenstraße 56, Berlin