■ Nordlichter üben Kritik an Scharpings Programmaussagen: Ein wenig überschlau
Durchschlängeln an die Macht, so lautet bislang die Devise, mit der Kohl-Herausforderer Rudolf Scharping im Herbst seinen Wahlerfolg landen will. Profil zeigen gilt in diesem Sinne als eher riskantes Unterfangen. Hinter dem Versuch, durch solide Unauffälligkeit an die Regierung zu geraten, steckt die Vorstellung, daß nichts die Mehrheit der Deutschen mehr verdrießt als die Aussicht auf absehbare Veränderung.
Die umworbene Mitte liebt, wie schon ihr Name sagt, keine kantigen Reformaussagen und noch weniger die polarisierte Debatte, die sich an ihnen entwickeln könnte. Also haben Rudolf Scharping und sein Team ein Regierungsprogramm vorgelegt, in dem einige zentrale Forderungen der letzten Jahre gar nicht mehr auftauchen, andere hinter dem Schleier eher unverbindlicher Absichtserklärungen verschwinden.
Gegen den vermeintlichen Erfolgskurs aus Konturlosigkeit und Langeweile haben am Wochenende die schleswig-holsteinischen Sozialdemokraten als erster Landesverband ihr Veto eingelegt und damit die überraschend schnelle Formierung der Scharping- SPD als Kanzlerwahlverein in spe ein wenig konterkariert. All das, was Scharping im Interesse eines unangreifbaren low profile aus dem Programmentwurf verbannt hat – Tempolimit, schrittweise Anhebung der Energiesteuer, Vermögensabgabe und einiges mehr –, haben die Schleswig-Holsteiner per Beschluß wieder eingefordert. Daß der einst als links geltende Landesverband, der unter der landsmannschaftlichen Loyalität zu Scharpings Vorgänger Engholm eher gelitten hat, am Wochenende die Chance zur Neuprofilierung witterte, mag die zum Teil harsche Kritik an Scharping erklären. Doch in Kiel machte sich erstmals auch eine aparte Zirkelbewegung bemerkbar, die den Wahlkampfstrategen aus der Baracke noch zu schaffen machen dürfte: Es ist der Erfolg des neuen Vorsitzenden, der die innerparteilichen Kritiker beflügelt. Weil Scharpings Disziplinierung der Partei, seine Kompetenz, die niemanden verschreckt, sowie die programmatische Reduktion der SPD den Machtwechsel im Herbst erstmals seit 82 realistisch erscheinen lassen, wollen jetzt auch die Befürworter einer reformfreudigeren SPD bei dem sich ankündigenden Erfolgsprojekt wieder mitmischen.
Ob sie es gefährden? – Das jedenfalls behaupten die sozialdemokratischen Wahlkampfdesigner, die Geschlossenheit, programmatische Konzentration und Rücksichtnahme auf das Sicherheitsbedürfnis der BürgerInnen als Erfolgsrezept und innerparteilichen Streit um konkrete und kontroverse Reformvorhaben als Risikofaktor ansehen. Man wolle eine andere Politik, aber man wolle deren Chance nicht schon im Wahlkampf mit der ganzen Latte konkreter Vorhaben verspielen. Die Union warte schließlich nur darauf, die SPD als Verbots- oder Steuererhöhungspartei brandmarken zu können. Im Grunde wolle man die Reform – nur wolle man das, im Interesse des Machtwechsels, nicht schon im voraus verraten.
Das klingt ein wenig überschlau. Denn während es zu den verläßlichen Mechanismen der Konkurrenzdemokratie gehört, daß die zur Macht gelangten Parteien hinter ihren Ankündigungen aus der Oppositionszeit zurückbleiben, will Scharping seine Kritiker vom Gegenteil überzeugen. Doch selbst wenn er die Partei bis zum Herbst auf Kurs halten könnte: Wie eigentlich soll aus der besänftigten Mehrheit der WählerInnen eine gesellschaftliche Mehrheit für eine andere Politik werden? Viel wahrscheinlicher ist, daß unter Scharpings fixer Idee der politische Handlungsspielraum einer SPD-geführten Regierung schon vorab schwindet. Doch wer die Kontroverse über materiellen Verzicht und ökologische Neuorientierung schon in der Opposition meidet, wird sie in der Regierung kaum austragen. Daß sich unter dem Schein der Kontinuität der Wandel verbergen könnte, dieses Täuschungsmanöver in wohlmeinender Absicht ist in Kiel jedenfalls mißlungen. Morgen hat Scharping schon seinen nächsten Versuch: in der Bundestagsfraktion. Matthias Geis
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