Im „Gesamtbild“ kommt Goražde nicht vor

■ Unmittelbare Opfer der breiter angelegten Friedensbemühungen der UNO und der westlichen Alliierten sind die 60.000 Einwohner der bosnischen Enklave

Eigentlich war der bosnische Vizepräsident Ejup Ganić nach Washington gereist, um die US- Administration zu beschwören, die muslimische Stadt Goražde im Osten Bosniens nicht aufzugeben. Doch statt dessen wurde er in den vergangenen Tagen Zeuge der jüngsten Kehrtwende im Zickzackkurs der US-amerikanischen Bosnien-Politik.

Noch Anfang letzter Woche hatte US-Präsident Bill Clinton höchstselbst die ersten Luftangriffe der Nato auf serbische Stellungen um Goražde als geeignetes Mittel bezeichnet, um die bosnischen Serben an den Verhandlungstisch zurückzuzwingen – und, falls nötig, weitere Bombenangriffe befürwortet.

Am Samstag, unmittelbar nach dem Abschuß eines britischen Nato-Fliegers über Goražde, ließ die Clinton-Regierung verlauten, man habe keinerlei Interesse an einer Ausweitung militärischer Aktionen gegen die bosnischen Serben.

Darüber hinaus hat sich die US- Regierung nach Angaben der Washington Post erstmals bereit erklärt, die Aufhebung der Sanktionen gegen Serbien auch vor dem Abschluß eines Friedensabkommens in Bosnien-Herzegowina zu erwägen. Einen entsprechenden französischen Vorschlag will die Administration diese Woche mit Vertretern der Europäischen Union und Rußlands diskutieren. Moskau plädiert schon seit langem für eine schrittweise Aufhebung des Embargos.

Ejup Ganić blieb nichts weiter, als hilflos Protest anzumelden: „Wer jetzt über die schrittweise Aufhebung der Sanktionen redet, der gibt das letzte Druckmittel gegen die Serben preis.“

Die Kehrtwende der US-Regierung war bereits vor der jüngsten Eskalation durch den Abschuß eines Nato-Flugzeugs und den Tod eines britischen UNO-Soldaten in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo absehbar. Statt nach den eher symbolischen Bombenangriffen amerikanischer Nato-Flieger Anfang letzter Woche ihren Vormarsch auf Goražde zu stoppen, beschlossen die bosnischen Serben, die Entschlossenheit von UNO und Nato zu testen, belegten die Stadt mit heftigerem Artilleriebeschuß, setzten UNO-Soldaten faktisch als Geiseln fest – und stellten zu ihrer Zufriedenheit fest, was man in Washington und anderswo ohnehin schon von den Dächern pfiff: In den Bemühungen um ein Friedensabkommen in Bosnien-Herzegowina, so ein namentlich nicht genannter Vertreter der Clinton-Regierung gegenüber dem Fernsehsender ABC, habe man das „Gesamtbild“ im Auge. Und darin komme Goražde nicht vor.

Die unmittelbaren Opfer dieses Kalküls auf seiten der UNO und der westlichen Alliierten sind die 65.000 EinwohnerInnen der muslimischen Enklave, die vor einem Jahr von den Vereinten Nationen zum „safe haven“ erklärt worden war – aber auch UNO-Truppen vor Ort.

Mit dem „Gesamtbild“ ist offenbar die amerikanische Friedensinitiative gemeint, die vor einigen Wochen recht vielversprechend mit einem Föderationsabkommen zwischen bosnischen Muslimen und Kroaten begann – eine Allianz, die nach Hoffnungen der Clinton-Regierung und ihres Bosnien-Gesandten Charles Redman die dritte Konfliktpartei, die Serben, an den Verhandlungstisch zwingen würde.

Doch die Gesprächskonditionen werden nach dem jüngsten militärischen Powerplay der bosnischen Serben und der völlig chaotischen Reaktion auf seiten der UNO und der Nato bis auf weiteres wieder in Pale und Belgrad bestimmt.

Auf Zuspruch und Solidarität traf Ejup Ganić in Washington nur unter ehemaligen Administrationsmitgliedern. In einem Brief an US-Präsident Clinton forderten unter anderem der ehemalige Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski und Ex-UNO-Botschafterin Jeanne Kirkpatrick, den bosnischen Serben mit weiteren Bombenangriffen zu drohen, falls sie ihre Attacken auf Goražde nicht einstellen.

Gleichzeitig solle das Waffenembargo gegen die bosnische Regierung aufgehoben werden, falls die US-Regierung nicht „im Angesicht eines neuen Massenmordes“ ihre Neutralität erklären und damit den Serben grünes Licht für weitere Aggressionen geben wolle.

Andrea Böhm, Washington