■ „Prinzipielle“ Einigung über Brandt-Aktenbestand
: Unverhofft vernünftig

Schon unter Privatleuten tendiert der Streit ums Erbe dazu, den immer gleichen, unappetitlichen Verlauf zu nehmen. Erst recht trifft dies zu, wenn der Verstorbene ein bedeutender Zeitgenosse war – Politiker oder Staatsmann. Wer den Nachlaß, den schriftlichen zumal, in den Händen hält, ist Herr über die Publikations- und Editionsstrategie und kann Einfluß darauf nehmen, wer und in welchem Umfang Zugang zu den unveröffentlichten Akten hat, selbst wenn diese Frage im Prinzip gesetzlich geregelt ist. Aber über diese höchst praktischen Folgen hinaus verhilft die Verfügung über die Hinterlassenschaft der erfolgreichen Streitpartei auch zu einem Mehr an politischer Legitimität. Noch immer haftet an dem, was der teure Verstorbene trug, schrieb oder sammelte, eine Aura des Sakralen, eine mystische Autorität, die sich auf den neuen Eigner überträgt. Der Kampf um die unveröffentlichten Marx-Engels-Manuskripte in den zwanziger und dreißiger Jahren legt davon ebenso Zeugnis ab wie August Bebels Taschenuhr.

Gemessen an diesen Komplikationen ist die grundsätzliche Einigung zwischen dem sozialdemokratischen „Archiv der sozialen Demokratie“ und Frau Seebacher-Brandt über die Zukunft der Brandt-Akten geradezu ein Triumph rationaler Streitbeilegung. Die Konstruktion einer Stiftung innerhalb des Archivs, an deren Leitung Frau Seebacher-Brandt ebenso teilnehmen wird wie Peter Brandt (nicht nur Sohn, sondern auch renommierter Historiker), wird das Mißtrauen der Witwe besänftigen. Was weiter Schriftliches in ihrem Eigentum bleibt, kann als Kopie an das Archiv gehen. Nachdem die Bestände des „emigrierten“ alten SPD-Archivs größtenteils beim Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte gelandet sind, kann das Bonner Archiv wenigstens für die Zeit nach 1945 den Anspruch auf jene Vollständigkeit wahren, die dem Historiker so teuer ist. Und der Streit, ob die späte „nationale Wende“ Willys so stattgefunden hat, wie Frau Seebacher-Brandt dies nahelegt, kann ohne Rekurs auf monopolisiertes Aktenwissen munter weitergehen.

Weniger froh stimmt die Nachricht, daß eine weitere Willy-Brandt-Stiftung, diesmal in Bundesregie, zu Berlin begründet werden soll: im Schöneberger Rathaus. Brandts Leben soll dort in einer ständigen Ausstellung dokumentiert, Seminare und Kolloquien zu „Brandt-Themen“ abgehalten werden. Abgesehen davon, daß nach dem Gesetz bürokratischer Vermehrung sich diese Stiftung nach allen Seiten, darunter auch jener der historischen Forschung, ausbreiten wird: Gedenkstätten, wo in Stolz und Verehrung des großen Sohns gedacht wird, wo das historische „Erbe“ nicht kritisch erarbeitet wird, sondern affirmativ gesetzt, wo an der „nationalen Identität“ gebastelt wird, sind ungefähr das letzte, was Demokraten sich wünschen sollten. Christian Semler