Verkehrte Law-and-order-Welt

■ In US-Sozialbausiedlungen agiert die Polizei oft jenseits der Legalität – mit Zustimmung der BewohnerInnen

Washington (taz) – Früher hätte das Szenario etwa so ausgesehen: Mit gezogener Waffe, aber ohne Durchsuchungsbefehl stürmen Polizisten Wohnungen im Ghetto einer US-amerikanischen Großstadt. Unterstützt von Bürgerrechtsorganisationen, ziehen die BewohnerInnen vor Gericht, um ihre Grundrechte einzufordern.

Heute sieht die Realität so aus: Auf der Suche nach Waffen und Drogen durchstöbert die Polizei ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl die Wohnungen von schwarzen MieterInnen, den public housing projects, Sozialbausiedlungen der Stadt. Die „American Civil Liberties Union“ (ACLU), eine der größten Bürgerrechtsorganisationen des Landes, reicht Klage ein, worauf ein Richter die Durchsuchungsaktionen für verfassungswidrig erklärt. Daraufhin bricht unter zahlreichen MieterInnen ein Sturm der Empörung los. Über 5.000 unterzeichnen eine Petition, in der sie polizeiliche Razzien ihrer Häuser fordern – ohne die Polizei mit bürokratischen Details wie dem Antrag auf einen Durchsuchungsbefehl zu behindern. – So geschehen im April dieses Jahres in Chicago.

Am Wochenende griff nun die Clinton-Administration in den Konflikt ein: Um verfassungsrechtliche Diskussionen vor Gericht zu vermeiden, will die US-Regierung den lokalen Polizeibehörden gestatten, Wohnungen in nicht näher definierten „Notfällen“ zu durchsuchen. Die Hausverwaltungen der public housing projects forderte Wohnungsbauminister Henry Cisneros auf, in Zukunft Mietverträge mit einer Klausel zu versehen, wonach sich jeder Mieter mit Überraschungsbesuchen der Polizei einverstanden erklärt.

Public housing projects sind heute in US-Großstädten Synonym für Drogenhandel, Gangs und Gewalt. In den „Robert Taylor Homes“, einem der düstersten Siedlungskomplexe im Süden Chicagos, registrierte die Polizei innerhalb von 72 Stunden 300 Schießereien, als kurz nach Ostern ein Waffenstillstand zwischen zwei Gangs zusammengebrochen war.

Diese Reaktion ist angesichts bürgerkriegsähnlicher Zustände ebenso nachvollziehbar wie der Eifer von Behörden und PolitikerInnen, diese Ängste in Law-and-order-Kampagnen zu kanalisieren. Clintons Ankündigung steht im Zeichen der crime bill, einer Gesetzesvorlage zur Verbrechensbekämpfung. Sollte sie eine Mehrheit finden, wovon auszugehen ist, wird unter anderem die Anwendung der Todesstrafe im Bundesgesetz auf über 70 Verbrechen ausgeweitet. Acht Milliarden Dollar würden in den nächsten fünf Jahren für den Bau neuer Gefängnisse aufgebracht. Wer zum dritten Mal vor einem Bundesgericht eines Gewaltdelikts schuldig gesprochen wird, soll zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden.

Dabei sind sich ExpertInnen einig, daß keine dieser Maßnahmen einen nachweisbaren Effekt auf die Rate der Gewaltkriminalität hat, die laut Statistik übrigens gesunken ist, in der öffentlichen Wahrnehmung der US-Bevölkerung aber das bedrohlichste Problem darstellt. Auch Durchsuchungsaktionen ohne richterliche Genehmigung ändern an der Situation in den „Robert Taylor Homes“ wenig, solange der Nachschub an Schußwaffen nicht unterbrochen und die Ghettoisierung von sozial Schwachen nicht aufgebrochen wird. Das gibt auch der Vorsitzende der „Chicago Housing Authority“, Vincent Lane, zu, auf dessen Initiative die Durchsuchungsaktionen gestartet wurden. Eigentlich, so Lane, müsse man die „Robert Taylor Homes“ dieser Welt abreißen und „für arme Leute neue Formen des Wohnungsbaus entwickeln“. Andrea Böhm