■ „Zwangsisolation“ von Aidskranken in Skandinavien
: Eingesperrt bis zum Tode

Stockholm (taz) – Pia ist seit 1987 eingesperrt. Aller Voraussicht nach wird sie ihr Gefängnis bis zu ihrem Tode nicht mehr verlassen können. Sie ist eine der derzeit 15 buchstäblich lebenslänglich Gefangenen, deren „Verbrechen“ es ist, HIV-positiv zu sein. Nach Meinung der Behörden kann sie nicht verantwortungsbewußt mit dieser Krankheit umgehen und stellt eine Ansteckungsgefahr für andere dar.

Das schwedische Gesetz über ansteckende Krankheiten verbietet jedem HIV-Positiven, ungeschützten Geschlechtsverkehr mit anderen Personen zu haben oder der Prostitution nachzugehen. Wer dagegen verstößt, muß mit „Zwangsisolierung“ rechnen. Wobei diese Zwangsisolierung für Personen wie Pia, die wegen ihrer Geistesbehinderung überhaupt nicht begreift, welche Krankheit sie hat, zum Urteil auf „lebenslänglich“ ausfallen kann. 31 Personen sind seit Inkrafttreten des Gesetzes 1987 isoliert worden. Viele mit Diagnosen ähnlich der Pias: Psychosen, Schizophrenie, Gehirnschaden.

Seit Anfang an heftig umstritten, ist das schwedische Gesetz gerade dabei, in den Nachbarländern Norwegen und Dänemark nachgeahmt zu werden. In Dänemark ist es der aufsehenerregende Freispruch eines HIV-positiven Mannes, der mit 23 Frauen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte, durch den Obersten Gerichtshof gewesen, der die Gemüter erregte. Das Gericht hatte seinen Freispruch damit begründet, der Gesetzgeber habe ganz bewußt Aids nicht kriminalisieren wollen. Dagegen hielt Justizminister Erling Olsen: „Wenn das Gericht meint, es gebe kein Gesetz, die Bevölkerung gegen so etwas zu schützen, muß ein Gesetz schleunigst her.“

In Norwegen wird ein ähnliches „Ansteckungsgesetz“ wie das in Schweden derzeit im Parlament behandelt. Eine klare Mehrheit im Folketing wird vermutlich im Mai die Möglichkeit schaffen, daß HIV- Positive und Aidskranke zwangsweise getestet, isoliert und interniert werden können. Die Sozialistische Linkspartei, die an der auf Freiwilligkeit aufgebauten bisherigen Aidspolitik festhalten will, steht allein bei ihrem Versuch, die große Zwangskoalition zu bremsen. Ihr Argument, das von den Aids-Hilfsorganisationen geteilt wird: Alle Zwangsmaßnahmen führten nur dazu, die Kranken von freiwilligen Tests und Behandlungen abzuschrecken. Brith Christenson, Oberärztin am Danderyd- Krankenhaus von Stockholm, verteidigt die umstrittene Zwangsgesetzgebung: „Wir isolieren die Leute ja nicht aufgrund eines bloßen Verdachts. Jede Woche erhalten wir eine Vielzahl von Anzeigen über Personen mit gesetzwidrigem Verhalten. Mit diesen reden wir dann, erklären die Vorschriften. Erst bei offenbarer Uneinsichtigkeit beantragen wir eine Entscheidung beim Verwaltungsgericht über Zwangsisolierung.“

Die von ihr als durchschlagend angesehene Begründung gegen die von vielen KritikerInnen als Menschenrechtsverstoß gewertete schwedische Zwangsgesetzgebung: Viele SchwedInnen seien dadurch davor bewahrt worden, HIV- angesteckt zu werden. Das „Aids- Gefängnis“ von Stockholm ist eine gelbe Villa auf dem Gelände des Danderyd-Krankenhauses, die wie eine Haftanstalt nach außen abgeschirmt ist. Sechs Plätze für Zwangsisolierte gibt es hier. Weitere gibt es im Anschluß an Psychiatrische Krankenhäuser. Aus Sicherheitsgründen wird dies von den Behörden nur als Übergangslösung angesehen. Für Pia sieht Birth Christenson keine Chance mehr, die gelbe Villa verlassen zu können: „Verlegen wir sie in ein psychiatrisches Krankenhaus, legt sie sich nach fünf Minuten zu einem Mann ins Bett. Und außerdem will sie selbst überhaupt nicht mehr von hier weg.“ Reinhard Wolff