: Der Schleier als Schutz vor Mord
In Algerien werden Frauen ermordet, die sich nicht den Regeln der Islamisten anpassen / Aus Gründen des Selbstschutzes lassen sich manche auf die islamische Kleiderordnung ein ■ Aus Algier Khalil Abied
„Ich leide Höllenqualen“, seufzt Amina*, während ein Beben durch ihren Körper geht. Die vielleicht dreißigjährige Algerierin mit dem Gesicht einer Fünfzigjährigen hat acht Jahre in Großbritannien gelebt und englische Literatur studiert. 1988 kehrte sie zurück. Wenige Monate zuvor hatte es in dem nordafrikanischen Land die ersten lauten Proteste gegen die Einparteienherrschaft der „Nationalen Befreiungsfront“ (FLN) gegeben. Das Aufbegehren der Bevölkerung gegen die seit der algerischen Unabhängigkeit 1962 ununterbrochen regierende Front habe in ihr, wie bei vielen ihrer Landsleute, Hoffnung auf Demokratisierung geweckt.
Von dem Optimismus ist sechs Jahre später nichts mehr übriggeblieben. Beim ersten Wahlgang der ersten freien Wahlen Algeriens im Dezember 1991 bekam die „Islamische Heilsfront“ (FIS) die meisten Stimmen. Die eigentlich Mächtigen innerhalb des algerischen Regimes – Generäle und die sogenannte politische Mafia – organisierten einen „kalten Putsch“. Der zweite Wahlgang wurde abgesagt, die FIS verboten und ihre Führer sowie Tausende ihrer Mitglieder und Anhänger landeten in Gefängnissen. Als Antwort begannen bewaffnete Gruppen der Islamisten einen „heiligen Krieg“ gegen das Regime. In bürgerkriegsähnlichen Gemetzeln starben nach offiziellen Angaben seitdem 3.500 Menschen. Andere sprechen gar von mehr als 8.000 Opfern, darunter Hunderte von Frauen.
„Jeden Morgen, wenn ich das Haus verlassen, fürchte ich, am Abend nicht mehr zurückzukehren“, sagt Amina. Als bekannte Intellektuelle und Aktivistin der Frauenbewegung steht sie auf der Abschußliste der militanten Islamisten. „Ich bin nicht gegen den Islam“, widespricht sie dem ihr von Islamisten gemachten Vorwurf der Häresie. „Ich bin Muslimin, und ich weiß, daß die Werte und Traditionen dieser Gesellschaft islamisch sind. Aber der Islam bedeutet nicht grundsätzlich, daß Frauen gezwungen werden, sich zu verschleiern und in ihren Häusern zu bleiben.“ Solche Forderungen entsprängen konservativen Schulen der Religion, jedoch nicht „dem Islam, den ich kenne“.
An der Universität, an der Amina lehrt, tragen Studentinnen zunehmend Kopftücher oder verschleiern ihr Gesicht. Einige tun dies aus Überzeugung, nicht wenige aus Angst. „Viele meiner Freundinnen und Bekannten stecken ihre Tücher an der Uni in die Tasche. Sie verhüllen sich aber, sobald sie auf die Straße gehen“, beschreibt Amina eine nicht seltene Taktik. Die Frauen wollten so Konfrontationen mit der Familie vermeiden oder schlicht ihr Leben schützen. Mehrfach wurden unverschleierte Frauen auf offener Straße mit Messern oder Säure angegriffen. Bei einem Überfall auf eine Schule wurden zwei Mädchen vor den Augen ihrer SchulkameradInnen regelrecht abgeschlachtet. Sie hatten sich geweigert, sich zu verschleiern.
Selbst von ihrem Mann bekam Amina die Bitte zu hören, sie möge doch das ungeliebte Tuch umlegen. Es würde sie schützen, und außerdem würden es zahlreiche andere Frauen tragen, ohne zu murren. „Nur über meine Leiche“, habe sie ihm geantwortet. „Heute ist es das Kopftuch und morgen etwas anderes – nein!“ Aminas Reaktion war so scharf, daß ihr Mann das Thema seitdem meidet. Doch Aminas Kritik richtet sich nicht nur gegen den eigenen Gatten, sondern gegen die meisten politisch interessierten Männer des Landes: „Die Männer, die sich für liberal und demokratisch halten, ignorieren unsere Leiden. Die Rechte der Frauen stehen nicht auf der Tagesordnung der Parteien.“
„Die islamischen Fundamentalisten setzen fort, was die FLN begonnen hat“, meint Fatima*. Die mittlerweile Fünfzigjährige schloß sich als junges Mädchen dem Befreiungskampf gegen die französische Kolonialmacht an. Mehrmals wurde sie von den Besatzern verhaftet und gefoltert. Ihr Mann fiel im Kampf gegen die Franzosen. Nach der Unabhängigkeit galt Amina ihren Landsleuten als Heldin. Doch sie distanzierte sich schrittweise von der Politik der FLN. „Von den Frauen, die während der Revolution eine wichtige Rolle gespielt hatten, wurde gefordert, in die Küche zurückzukehren.“ Damals begann Fatima, für die Rechte der Frauen zu kämpfen. Sie merkte, daß die Taten der FLN-Führung den Interessen weiter Teile der algerischen Bevölkerung widersprachen. „Wir hatten alles geopfert, um in Demokratie zu leben und nicht unter einer Diktatur.“ Als 1965 Howari Boumedienne an die Spitze des Staates kam, habe er ein „sozialistisches System nach Vorbild der UdSSR“ aufgebaut. Nach Fatimas Ansicht ist die algerische Diktatur ein „männliches System“. Zwar habe Boumedienne einige Reformen zu Gunsten der Frauen durchgeführt. So fanden Algerierinnen Zugang zu höheren Schulen und Universitäten. „Aber was macht eine Frau mit ihrer Bildung, wenn sie keine politischen und gesellschaftlichen Rechte hat?“ Weil sie sich nicht mit diesem Zustand abfinden wollte, hätten sie die politisch Mächtigen samt ihrem Kind aus der Wohnung gejagt.
Nach dem Tod Boumediennes übernahm Chadli Ben Jedid die Macht. Seine Amtszeit wird in Algerien „die schwarzen zehn Jahre“ genannt. Anfang der 80er Jahre gründete Fatima gemeinsam mit anderen Frauen eine Organisation zum Schutz der Angehörigen der „Märtyrer“, der mehr als eine Million im Befreiungskampf gefallenen AlgerierInnen. „Eine Schande“, sei es gewesen, daß „Witwen und Töchter der Märtyrer in den Villen und Palästen der Reichen putzen mußten, um zu überleben“. Das Regime forderte von der Organisation, ihre Aktivitäten einzustellen. Als sie sich weigerte, landete Fatima für acht Monate im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung gründete sie eine Menschenrechtsorganisation, was ihr weitere 18 Monate Haft einbrachte.
Trotz der unberechenbaren Situation setzt Fatima auch heute ihre Aktivitäten fort. „Das Militärregime nutzt die Konfrontation mit den Islamisten aus, um die Demokratie zu unterdrücken“, meint sie. Die Stärke der FIS sei nur die Frucht von „langjährigen Repressalien und Korruption“. Mittlerweile habe sie mehr Angst vor dem Regime als vor den Islamisten. Vor ein paar Monaten hätten staatliche Medien verbreitet, Islamisten hätten sie ermordet. Für Fatima ist die Falschmeldung ein klarer Wink: „Es war eine Warnung aus dem Regime an mich.“
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