An der Paragraphenfront sind die Kläger renitent

■ Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe fanden gestern vor großer Kulisse die mündlichen Anhörungen über die Zulässigkeit einer Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Einsätzen...

Vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe fanden gestern vor großer Kulisse die mündlichen Anhörungen über die Zulässigkeit einer Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Einsätzen außerhalb des Nato-Gebiets (out of area) statt.

An der Paragraphenfront sind die Kläger renitent

Die Lektüre von Zeitungen wirft interessante Fragen auf. Manchmal auch solche zum Verhältnis von Politik und Verfassungsrechtsprechung, wie die neue Verfassungsrichterin Jutta Limbach gestern am 1. Verhandlungstag über die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr demonstrierte. „Beim Studium der Freitagszeitungen“, so meinte die Vorsitzende des Zweiten Senats, hätten sich dessen Mitglieder dann doch gefragt, ob sich die Bundestagsfraktionen von SPD und FDP durch die Awacs-Beschlüsse der Bundesregierung tatsächlich in ihren parlamentarischen Rechten eingeschränkt fühlten. Das nämlich behaupten die beiden Fraktionen in den Klagen, deren Verhandlung gestern vor großer Kulisse in Karlsruhe begann.

Die ehemalige Berliner Justizsenatorin bezog sich auf die Bundestagssitzung vom vergangenen Donnerstag. Mit den Stimmen der beiden Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP sowie der SPD hatte das Parlament an diesem Tag eine Resolution verabschiedet, die den Awacs-Einsatz deutscher Soldaten ausdrücklich würdigt. Gegen eben diese Teilnahme an dem Einsatz aber richtet sich eine der Klagen, die gestern in Karlsruhe verhandelt wurden.

Nicht nur die neue Senatsvorsitzende wunderte sich über diese Doppelbödigkeit politischer Praxis nach dem Motto: „In Karlsruhe dagegen klagen und in Bonn zustimmen“. Dies ist nicht die einzige Schieflage in einem der wichtigsten Prozesse, die das Verfassungsgericht bislang geführt hat. Zur Verhandlung steht die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik – die Frage, ob das Grundgesetz den Einsatz deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen im Auftrag der UNO auch außerhalb des Nato- Gebiets zuläßt. Da verhandelt das Gericht über den Einsatz in Somalia, der schon längst Geschichte ist. Da vertritt der liberale Außenminister Kinkel die Politik der Regierung, gegen die seine eigene Partei Klage erhoben hat. Und da warten Politiker angeblich ehrfürchtig auf das Urteil, obwohl sie doch längst Fakten geschaffen haben oder – wie große Teile der SPD – ihre eigene, bislang abweichende Haltung zugunsten einer opportunistischen Position revidiert haben.

Drei Klagen hat der Zweite Senat zu dem gestern aufgerufenen Verfahren zusammengefaßt:

– die Klage der SPD-Fraktion gegen die Entsendung eines Zerstörers zur Überwachung des UNO- Embargos gegen Restjugoslawien im Rahmen einer Nato- und WEU-Aktion;

– die Klagen der SPD und FDP- Fraktion gegen die Teilnahme deutscher Soldaten an Awacs-Aufklärungsflügen zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien- Herzegowina;

– schließlich die vor einem Jahr eingereichte Klage der SPD gegen die Teilnahme deutscher Soldaten an der UNO-Aktion Unosom II in Somalia.

Vor allem geht es um die Rechte des Bundestags gegenüber der Regierung bei den Out-of-area-Einsätzen. Auch die meisten SPD- Vertreter erwarten nicht mehr, daß die Richter nachträglich den Somalia-Ausflug und die Awacs- Flüge für verfassungswidrig erklären. Schließlich hatte das Gericht im April und Juni 1993 den Erlaß von einstweiligen Anordnungen abgelehnt. Die SPD-Fraktion vertritt den Standpunkt, Out-of-area- Einsätze bedürften einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages.

Bevor die Professoralen Bevollmächtigten und Sachverständigen gestern ihr völkerrechtliches Oberseminar austragen konnten, hatten die Politiker Gelegenheit, aus ihrer Sicht die Bedeutung der Auseinandersetzung zu würdigen. Die stellvertretende SPD-Fraktionschefin Anke Fuchs warf der Regierung vor, im Jahre 1992 den bis dahin bestehenden Verfassungskonsens aufgekündigt und falsche Tatsachen zum Somalia-Einsatz angeführt zu haben. Vom Verfassungsgericht erwarte die SPD indirekt nun „Klarheit“. FDP-Fraktionschef Solms betonte, seine Fraktion begrüße die militärischen Aktionen, billige aber nicht den Weg der Entscheidungsfindung.

Kontinuität und „außenpolitische Handlungsfähigkeit“ beschwor Minister Kinkel, der die bisherige „Kultur der Zurückhaltung“ weiterzuführen versprach. Verteidigungsminister Rühe hatte seine Rede um den Schlüsselbegriff „Verantwortung“ aufgebaut. Er versuchte die Richter mit dem Argument zu beeindrucken, das „persönliche Engagement unserer Soldaten“ sei ein „unverkennbares Zeichen für die Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.

Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde bemühte sich gestern, dem Eindruck entgegenzuwirken, das Ergebnis der Verhandlung sei schon absehbar; in solchen Vermutungen sieht er offenbar ebenso eine Mißachtung des Gerichts wie in der FDP-Praxis, statt in Bonn in Karlsruhe die eigene Regierungspolitik zu gestalten. Hans Monath, Karlsruhe