Ein Encounter, eine Art Entlastung

■ Ist es Zeit für einen Anti-Lanzmann? Gar für etwas wie Blasphemie gegenüber bewährten Ritualen der Gedenkkultur? Gibt es eine Position jenseits von Philosemitismus und Indifferenz? Gespräch mit Andres Veiel, dem Regisseur von „Balagan“

Andres Veiel, Regisseur des Dokumentarfilms „Balagan“, 1959 in Stuttgart geboren, studierte zunächst Psychologie mit dem deutlichen Gefühl, er werde in diesem Beruf nichts werden. Dann ist er durch die Donnerschule bei Krzysztof Kieslowski, Agnieszka Holland und Andrzej Wajda gegangen, hat zwei Jahre lang Knasttheater und unsichtbares Theater in U-Bahnen und so weiter gemacht und bekam schließlich, nach mehreren Inszenierungen, den Auftrag vom ZDF, einen Film über das Akko-Theater und dessen Stück „Arbeit macht frei“ zu drehen. „Balagan“ bekam den Deutschen Friedenspreis.

taz: Bei ersten Vorführungen in Israel reagierte ein Teil des Publikums, heftig verärgert, mit dem Vorwurf der Anmaßung: Wie kommt ein Deutscher dazu, sich in die inneren Angelegenheiten (!) der Juden einzumischen, einen Film über israelische Bilderstürmer zu machen, die Blasphemie gegenüber der israelischen „Nationalreligion Holocaust“ begehen. Müssen oder wollen Sie sich da rechtfertigen?

Andres Veiel: Auf jeden Fall. Ich bin ein typischer Vertreter der zweiten deutschen Nachkriegsgeneration; mein Vater, geboren 1920, mein Großvater waren beide im Rußlandfeldzug, der eine Offizier, der andere General, beide waren junge Enthusiasten. Davon abgesehen herrschte das bekannte Schweigen. Im Akko-Theater traf ich dann auf Leute, die ebenfalls der zweiten Generation angehören, und die ebenfalls bei ihren Nachfragen auf ein Schweigen getroffen waren. Da entstand dann plötzlich so eine seltsame Anziehung; der wollte ich nachgehen. Die Frage: „Warum machst du keinen Film über Mölln?“ hat etwas Entwaffnendes, klar gibt es in dieser Anziehung das Moment des Exotischen.

Was genau wollten Sie wissen?

Ich wollte herausfinden, wie die einzelnen Schauspieler dazu kommen, ständig an dieser Schmerzgrenze zu operieren – etwas, was ich hier nie erlebt habe. In Israel liegt ein Nerv frei, nach dem man hier ewig bohren muß. Das war mal kurzzeitig anders während der Holocaust-Serie Ende der siebziger Jahre und jetzt durch „Schindlers Liste“, aber diese Überwältigungsdramaturgie durchbricht die Schutzschicht nicht wirklich. In Israel gibt es da eine Tagesaktualität, ich sehe eben ständig Leute mit Nummern auf dem Arm. Auch wenn es funktionalisiert oder ritualisiert wird. Der Yom HaShoah [nationaler Gedenktag, während dem in ganz Israel für Minuten der Verkehr stillsteht, d.R.] ist kein leeres Ritual; ich habe in die Gesichter gesehen, während die Sirenen heulen. Die Akko-Gruppe macht während dieser Minuten ostentativ weiter, sie fahren auf der Autobahn nicht rechts ran, sondern freuen sich über die freie Fahrt. Jede Art von Bemühtheit fehlt. Vor kurzem habe ich Schlingensiefs „Kühnen '94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“ gesehen; diese ungeheure Anstrengung, jugendlich-provokant zu sein, das langweilt eher, als daß es etwas in Bewegung setzt; es ist auch eine Form, die Dinge nicht wirklich an sich heranzulassen.

Das hörte sich jetzt ein bißchen so an, als hätten Sie der Gruppe Vorhaltungen in bezug auf deren Pietät gemacht ...

In der Tat gab es heftige Auseinandersetzungen über den Umgang mit der ersten Generation. Ich dachte oft, ich höre nicht richtig; da gab es einen enormen Widerwillen: „Wir haben es satt, jeden Tag irgendwo Berufsüberlebende sprechen zu hören, und jetzt willst du denen wieder ein Forum verschaffen.“ Eine der wichtigsten Szenen im Film ist für mich deshalb das Gespräch, das Khalid [der arabische Schauspieler der Gruppe, d.R.], mit einer holländischen Überlebenden während des Stücks führt. Hinter der Glaswand sitzend, befragt er sie zu ihrer Deportation. Für das, was sie erzählt, gibt es keinen Adressaten mehr. Die beiden Generation können sich nicht mehr ineinander spiegeln. Einige Mitarbeiter des Museums Lohamei Hageta'ot wollten der Gruppe Auftrittsverbot erteilen, haben sich aber nicht durchgesetzt. Denn im Stück gibt es eine Ambivalenz: Wenn Madi sich die Nummer auf den Arm malt, dann ist das nicht nur Blasphemie, sondern auch ein Konservieren. Die mit der echten Nummer sterben langsam aus, und die dreißigjährige Madi hat sie auf dem Arm.

Was passiert in der Begegnung mit jemandem wie Madi Maayan, die sich als „Holocaust-Kommando“ versteht, wenn sie das Publikum durch das Museum führt, einzelne anspricht ...

Der gebeugte Gang, der Blick, dieses Vorgealterte – ich hatte erst mal einen Kloß im Hals. Plötzlich drehen sich zwanzig Zuschauer nach mir um: Ein Deutscher ist da. Khalid erklärt dem Publikum Treblinka an einem Modell [die Szene ist im Film zu sehen und Teil des Stücks, d.R.], und er sagt: „Wir achten jetzt mal auf diesen Deutschen und werden ihm ein paar Fragen stellen; sie behaupten ja immer, sie hätten sich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt.“ Er fragt mich, wieso die Züge so lange in der Kälte standen auf dem Weg nach Treblinka. Ich war sprachlos. Erst nach Wochen der Auseinandersetzung lösten sich bestimmte Blockaden, zugleich mit Madis grellem Philogermanismus – das Horst-Wessel-Lied treibt ihr Tränen der Rührung in die Augen –, die beide einer gemeinsamen Arbeitshaltung gewichen sind ...

Arbeit macht frei!

Ich umschleiche mal den Begriff der Therapie, aber letztlich handelt es sich tatsächlich um etwas Ähnliches, eine Art Entlastung, ein Encounter.

Nehmen wir mal an, Sie müßten zwei Zeichnungen machen, die Ihr „Bild vom Juden“ vor und nach diesem Encounter illustrieren.

Vorher, das wäre das Bild von dem kleinen Jungen im Warschauer Ghetto, der mit erhobenen Händen im Deportationszug vor SS-Männern steht, Angst, Terror in den Augen. Nachher, das ist das Bild von Moni Yosef [dem einzigen orthodoxen Schauspieler der Gruppe, einem Sohn irakischer Juden, die gegenüber den Aschkenazim lange Parias der israelischen Gesellschaft waren/sind d.Red.] auf dem Mount Odem im Golan, wo er über das Land zeigt und sagt: „Von hier oben kontrollieren wir gleichzeitig Syrien und Galiläa.“

Vom Opfer zum Tough Jew ... Zurück zur „Erlösungsmaschine“. Die Blasphemie in Israel ist eine Sache, aber welche Rezeption wünschen Sie sich in Deutschland?

Raus aus der pädagogischen Erstarrung. Daß endlich nicht mehr mit „Nacht und Nebel“ in den Schulen hantiert wird, oder meinethalben jetzt mit „Schindlers Liste“. Das darf natürlich nicht auf die markigen Sprüche von Madi beschränkt bleiben, wenn sie zum Beispiel sagt: „I give a fucking shit about the six million.“ Nach dem Motto „Wenn die das schon selber sagen, dann dürfen wir ja wohl auch“. Es geht darum, auch hier ich zu sagen, so wie die Schauspieler das machen, die die Arbeit an diesem Stück eben auch frei macht. Was bedeutet es von meiner Biographie her, von da aus, wo ich jetzt stehe? Für meine Eltern etwas anderes als für mich?

Welche Positionen jenseits von Revisionismus und Schuldabtragungspädagogik kommen eigentlich bei uns nicht zur Sprache. Stellen Sie sich vor, es gäbe hier ein Holocaust-Museum und eine junge Schauspielerin in Madis Alter würde auf dieses Foto des Jungen aus Warschau zeigen und sagen: „Ist er nicht süß?“ oder irgendwie anders das Thema Philosemitismus so zur Sprache bringen, daß man sich dem nicht, wie bei Schlingensief, so ohne weiteres entziehen kann.

Tabori würde das dürfen, aber wir würden es nicht dürfen. Ich bin mit „Balagan“ ja in einer relativ sicheren Position, ich verstecke mich hinter den Schauspielern. Natürlich habe ich auch Szenen provoziert, wie die mit Madi, die verzückt dem Horst-Wessel-Lied lauscht, und mich da auf einer spiegelglatten Fläche bewegt. Ihre Faszination hat sich plötzlich auf mich übertragen: drei Tage später, morgens beim Duschen, singe ich ein Lied und merke plötzlich, huch!,

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Fortsetzung

Horst Wessel.

Wäre zum Beispiel ein Film denkbar, in dem Indifferenz gegenüber dem Holocaust zur Sprache kommt, im Sinne von Mitscherlich, daß man eben eigentlich nicht betrauern kann, was man nie besonders geliebt hat?

Man müßte eben nach einem Zwischenweg suchen, jenseits der zigtausendsten Auflage von Weizsäckers Rede und Spielbergs Überwältigungsmaschine. Das wird Kleinarbeit: einzelne werden kleine Schritte gehen, eins in die Kniekehlen bekommen und so weiter. Was hier so tabuisiert ist, ist eben die Faszination für die Lieder, die Uniformen, die Formationen. Der Riefenstahl-Film ist daran genauso gescheitert wie Syberbergs Schauerromantik. Der zweite Irrtum ist: Wenn wir's nur genau genug erforschen, können wir's erkennen – und bannen. Das reicht von Reich bis Theweleit; alle haben sich hinter Mustern verschanzt. Nach Friedländers „Kitsch und Tod“ ist es nicht so recht weitergegangen; auch die künstlerische Auseinandersetzung hat stagniert.

Ohne Obszönität – das ist ja eine der Lehren aus „Arbeit macht frei“ — wird das nicht abgehen; brauchen wir einen Anti-Lanzmann? Fühlen Sie sich in der Lage, so was hier zu machen?

Es gibt Überlegungen zur Fortsetzung des Stücks, zur Arbeit mit den Schauspielern in Deutschland. Dudi [Maayan, der Regisseur, d.R.] hat vor, das Ganze gestalttherapeutisch weiterzutreiben, die kollektive Erinnerung in Deutschland über das Vater-Mutter-Kind- Dreieck auszuloten. Khaled will einen Film über seine Situation als Araber sehen.

Wenn man an Filme denkt wie „Der Nachtportier“ (Cavianis S/M-Spektakel), dann hat man Material für einen Film über unsere Obsession, die man, indem man sie zeigt, auch immer wieder auseinandernimmt.

Entdecken Sie eine Position, die jenseits von Philosemitismus und Indifferenz liegt?

In Israel bin ich einem Mann begegnet, der Opfer eines palästinensischen Attentats gewesen war und der nun im Rollstuhl saß. Ich hatte mehrere Stunden mit ihm gesprochen, und schließlich sagte er, er wolle sich gern das Theaterstück ansehen. Als wir uns verabredeten, sagte ich: „Der Transport läßt sich sicher irgendwie organisieren.“ Damit war ein bis dahin offenes Gespräch zu Ende.

Die Position, von der Sie sprechen, würde eben darin bestehen, an dieser Stelle nicht abzubrechen, sondern gemeinsam mit den Tretminen zu hantieren, die da ausliegen; dem Philosemitismus, der Kränkung, Angst, aber auch der Indifferenz, dem Vorwurf und seiner Zurückweisung. Wir müssen uns irgendwie aus den festgezurrten Diskursen und Ritualen herausgraben. Diese Art von Arbeit macht nicht unbedingt frei, denn sie wird wahrscheinlich niemals ankommen, wird Stückwerk bleiben. Man muß eben in Fragmenten reden, zwischen denen es Sauerstoff gibt.

Interview: Mariam Niroumand