■ Daumenkino
: Balagan

Neuerdings scheint es, als wolle ausgerechnet der Dokumentarfilm das permanente Verschwinden des Holocaust durch immer intensivere körperliche Präsenz parieren. Zunehmend machen die Nebellandschaften aus Alain Resnais' „Nuit et brouillard“ (1946), die zurückweichenden polnischen Grasnarben, die erhabenen Wachtürme einer greifbaren bis bedrängenden Nähe zu den Beteiligten Platz.

Claude Lanzmann ließ seine jüdischen Protagonisten Szenen um die Vernichtung herum schon nachspielen – nicht nur nacherzählen – um solchermaßen, einem rabiaten Gestalttherapeuten nicht unähnlich, die Schutzschicht zu zerreißen, die mühsam über die Erinnerung gelegt war. Dabei ging es hauptsächlich noch um die Konstruktion eines Verhältnisses zu den Toten, die das Anekdotische des Überlebt-Habens soweit wie möglich hinter das Systematische der Vernichtung zurückdrängt. Lanzmanns Zorn über Spielbergs Obszönität, seine Überzeugung, man dürfe eigentlich keinen Shoah-Film haben neben seinem, speist sich aus dieser Strenge.

Es gibt nicht, es darf nicht, man kann nicht – inzwischen ist, hauptsächlich durch Lanzmann, eine Dornenhecke um die Frage der filmischen Repräsentation gewachsen: Du sollst nicht vergleichen, du sollst nicht verkitschen, du sollst nicht lachen und schließlich, so der FAZ-Titel über Lanzmanns Kritik an „Schindlers Liste“: „Ihr sollt nicht weinen.“ „Bilderverbot“ trifft es nur begrenzt: Irgendwie geht es auch darum, daß man nicht „jetzt“ sagen darf; die Gegenwart profanisiert: (Über-)Lebende zu zeigen, die von etwas anderem als dem Sterben sprechen oder die womöglich gar über den heutigen Gebrauch der Erinnerung nachdenken, grenzt an Blasphemie.

Dabei läßt sich doch, strenggenommen, über etwas anderes als diesen Gebrauch überhaupt nur schwerlich reden. In Balagan versucht nun Andres Veiel, ein junger deutscher Regisseur, einen Salto mortale: Er dokumentiert als Deutscher den lästerlichen Umgang einer israelischen Theatergruppe mit der nationalen Gedenkkultur Israels, die meist darauf hinausläuft, zwischen der Vernichtung des europäischen Judentums und der Entstehung des Staates Israel eine Art teleologischen Zusammenhang herzustellen: Die Kämpfer des Warschauer Ghettos waren, glaubt man so manchen Museen, Skulpturen und Filmen, die ersten Zionisten: Die Diaspora mußte sterben, damit Israel leben konnte.

Das Stück des Akko-Theaters mit dem nicht nur zynisch gemeinten Titel „Arbeit macht frei“ spielt zum Teil an den Orten, an denen diese Ikonographie produziert wird: Die Schauspielerin Madi Maayan führt die Besucher durch das Kibbuz Museum Lohamei Hageta'ot, errichtet von ehemaligen Kämpfern des Warschauer Ghettos, vorbei an den Fotos von Nazi-Aufmärschen und Bergen von Ermordeten, an Skulpturen und Schautafeln mit Zahlen, Orten, Namen. Mit dem Habitus und dem Gang einer uralten Frau lotst sie hierhin, zeigt dorthin und fragt: „Sechs Millionen von sechzig – das sind mal gerade zehn Prozent! Müssen die Juden immer etwas Besonderes sein?“

Die nächste Station im Stück, der Einstieg des Films, führt die Besucher in eine klaustrophobische Höhle, ein Gemisch aus Folterkeller, Zoo, Kabarettbühne und Sitzungsraum für Geisterbeschwörungen. Ein nackter Araber geißelt sich mit Lederriemen; um den Hals trägt er einen Flaschenöffner, mit dem die Besucher ihre Bierflaschen öffnen. In einem riesigen Futtertrog liegt eine nackte Frau, die sich Reis in den Mund stopft, den sie würgend ausspuckt, wieder reinstopft, wieder rauswürgt und so weiter. Es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Auf Videos an den Wänden laufen Ausschnitte aus Lanzmanns „Shoah“, anderen Dokumentarfilmen oder auch Spielfilmen, Nachrichtensendungen – alles Material, das Israelis permanent umgibt und das die Schauspieler jahrelang studiert haben. Manchmal stehen die Akteure als Gruppe zusammen. Wie im Gebet murmeln sie, die Häupter beugend, „six million, six million, six million“. Oder schreien aus voller Kehle, sich vor die Stirn schlagend: „Shalom! Shalom! Mit Blut befreien wir Palästina!“ Oder sie sitzen in Glasboxen, aus denen sie die Besucher interviewen: „Wie war das damals, bei der Deportation, wie viele waren Sie, was passierte im Zug, was passierte, als Sie ankamen“ et cetera. Es gehen viele Überlebende in das Stück; längst ist es ein Politikum in Israel. „Balagan“, der Film, versucht nun, den Konflikt zwischen der ersten und der zweiten/dritten Generation abzubilden, ohne eindeutig für die jungen Blasphemiker Position zu beziehen. Er zeigt nicht nur, wie die Maayan sich eine Nummer auf den Arm schreibt, sondern auch, wie eine Überlebende dagegen protestiert.

Ganz im Sinne der Protagonisten plaziert Andres Veiels „Balagan“ (hebräisch für „Chaos“) das Stück in der israelischen Gegenwart: Er verfolgt den einzigen arabischen Schauspieler der Gruppe durch israelische Straßensperren hindurch in sein Dorf im Gaza-Streifen, wo man nichts vom Holocaust und erst recht nichts von seiner Rolle in dem Stück weiß. Khaled ist nicht sicher, was schlimmer wäre: Wenn seine Familie erführe, daß er nackt spielt, oder wenn sie erführe, daß er mit Juden arbeitet und befreundet ist. Wenn der Film in israelischen Kinos anläuft, ist Khaled ernsthaft gefährdet.

Die Obszönität des Stücks, die Verbindung von Horst-Wessel-Lied und israelischem Volkslied, die Ähnlichkeit mit einem Mysterienspiel, der Exorzismus – schwer zu sagen, welche Wirkung sie hier haben werden. Veiel jedenfalls hat sich von dem Kraftakt der Schauspieler nur sehr kontrolliert überwältigen lassen. „Balagan“ läßt eine Möglichkeit aufziehen: Wie man versucht, die Erinnerung nicht in Erhabenheit erstarren zu lassen, sondern als eine Art „Living Theater“ zu bewahren. Auch wenn die Nummer auf dem Arm despektierlich aufgemalt ist, erinnert sie an die Selektion. Mariam Niroumand

„Balagan“, Regie: Andres Veiel. Mit Madi Maayan, Khaled Abu Ali, Moni Yosef, u.a. BRD 1993, 93 Min.