Der Nebel um die Solinger Mordtat

Die harten Skins von einst outen sich vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht als nette Jungs / Vor Gericht verbreiten sie schamlose Lügen auch im Angesicht der Angehörigen  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Seine gestrafften, hinten zu einem kurzen Pferdeschwanz gebundenen Haare verraten nichts über seine Vergangenheit. Die neue Haarpracht als Tarnung eines rechten, ausländerfeindlichen Skins? Nein, davon will Christian B. nichts wissen. In immer neuen Anläufen sucht der 21jährige seine Skin-Karriere als unpolitisches Rebellentum darzustellen, als ein „Lebensgefühl aus dem Bauch heraus“, das „mit Nazis überhaupt nichts zu tun hat“. Zu den Skins gekommen sei er über die Musik der inzwischen geläuterten „Böhsen Onkelz“, die einst mit einem widerlich rassistischen „Türkenlied“ in der neonazistischen Szene für Furore sorgten. Nein, Nazi-Skins fand B. „total peinlich“. Und dennoch hat er lange Zeit in der Solinger Kampfsportschule Hak- Pao an der Seite von Neonazis trainiert. Wo sie ihn doch so sehr „nervten“.

Sein Tagebuch spricht eine andere Sprache. Nach einer Schlägerei seines Bruders mit Ausländern notiert B. am 2.12.92: „Kanaken, ihr werdet auch noch brennen.“ Ein paar Wochen vor dem Solinger Brandanschlag, am 10.4.93, schreibt B. von „einer Kanaken- Mama“, die ihn in Düsseldorf zu beklauen versucht habe. Und weiter wörtlich: „Asoziales Kanakenschwein, was vom Cocktail noch nicht verbrannt wurde.“ „Nichts gedacht haben“ will er sich bei solchen Formulierungen.

Über „Faschomusik“ stieß auch der aus einem linken Elternhaus stammende Felix K. zu den Skins. CDs von „Störkraft“, die die Skins feiern als eine „Kraft, die Deutschland wieder saubermacht“, brachte ein Nachbarjunge mit. Im Original hört sich „Störkraft“ so an: „Skinheads, Skinheads, ist der Schlachtruf, den man überall hört. Heute wird noch was passieren, heißt die Parole der Nacht ... Überall seh' ich Ausländermassen, das kann nicht Deutschland sein, nein das kann ich nicht fassen ... Die Köpfe kahl, unsere Fäuste hart wie Stahl.“ Kahlgeschorene Köpfe, Bomberjacken, Doc-Martens-Schuhe mit und ohne Stahl, Springerstiefel, so sind sie in Solingen rumgerannt: Felix K. (16), Christian B. (21) und Markus Gartmann (24).

Heute sitzen die drei zusammen mit „dem Schalker“, dem 17jährigen Schalke-Fan Christian R., in Düsseldorf auf der Anklagebank. Christian R. Hat die üble rechte Soße nicht über entsprechende Bands aufgezogen, sondern die kam via Nationalzeitung frei Haus. Das rechtsradikale Hetzblatt des Münchener Verlegers und DVU- Vorsitzenden Gerhard Frey habe er „regelmäßig geschickt bekommen“.

Knapp zehn Meter von den Angeklagten entfernt sitzen im fensterlosen Verhandlungssaal des Oberlandesgerichtes die Angehörigen der Opfer jener schrecklichen Solinger Mordnacht, die die Welt erregte und eine türkische Familie ins Unglück stürzte. Mevlüde und Durmus Genc – sie verloren in dieser Nacht ihre beiden Enkeltöchter Hülya (9) und Saime (4), ihre beiden Töchter Hatice (18) und Gürsün (27) sowie die 12jährige Nichte Gülüstan – verfolgen die Verhandlung äußerlich ruhig. Sie wissen ihren Schmerz über die grausam zu Tode gekommenen Opfer gut zu verbergen.

Der Senatsvorsitzende Wolfgang Steffen hat in der vergangenen Woche die Angeklagten eindringlich ermahnt, „auszupacken“. Er appellierte an ihr Mitgefühl, nicht durch neue Lügen dem schweren Leid der Familie neues hinzuzufügen. Es war alles vergeblich. Auch im Angesicht der Hinterbliebenen wird in diesem Prozeß schamlos weitergelogen. Die Frage ist nur von wem? Markus Gartmann, der einzige erwachsene Angeklagte, dem im Fall einer Verurteilung eine lebenslängliche Haftstrafe droht, behauptet, er habe zusammen mit den drei Mitangeklagten den folgenschweren Brandanschlag begangen.

Immer wieder nach Worten ringend, leise, scheu, kalkweiß im Gesicht, beschrieb Gartmann die Ereignisse in der Tatnacht. Manchmal bat er um Pausen, weil die Stimme versagte. Das wirkte nicht einstudiert, nicht inszeniert. Es schien so, als stelle sich da ein Beteiligter an einer schrecklichen Tat seiner Verantwortung.

Neue Details bot das Geständnis, das er während der Untersuchungshaft schon einmal widerrufen hatte, nicht. Mit den beiden Mitangeklagten Felix K. (16) und Christian B. (21) will Gartmann in der Nacht zufällig auf Christian R. gestoßen sein. „Wir haben ihm erzählt, daß wir von Türken verjagt worden sind.“ R. habe daraufhin vorgeschlagen, den Leuten mal einen Denkzettel zu verpassen und ein Haus anzuzünden. Auf Vorschlag von R., der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte, sei dann das Haus der Familie Genc ausgewählt worden. War es tatsächlich so?

Von den anderen drei Angeklagten wird diesem Geständnis vehement widersprochen. Unstreitig ist, daß Felix K. und Christian B. in der Nacht mit Markus Gartmann zusammen gewesen sind. Zunächst besuchten sie einen Polterabend und von dort ging es in die Wohnung des Karsten H.. Wann sie dort eintrafen, wie lange sie blieben und was danach geschah, darüber gibt es total widersprüchliche Angaben. Die Verteidiger von Felix K. und Christian B. glauben nachweisen zu können, daß ihre Mandanten, die beide seit ihrer Verhaftung jede Tatbeteiligung bestreiten, zum Zeitpunkt der Brandlegung allein aus zeitlichen Gründen gar nicht am Tatort gewesen sein können. Glaubt man Felix K. und Christian B., dann haben sie die Wohnung von Karsten H. zusammen mit Gartmann verlassen, ohne je auf dem Nachhauseweg auf R. zu stoßen. Zunächst hatte Karsten H. gegenüber der Polizei dem Trio ein wunderschönes Alibi verschafft und behauptet, die drei Angeklagten seien bis um drei Uhr, da waren die tödlichen Flammen schon gelöscht, bei ihm gewesen. Unter dem Druck der Vernehmungsbeamten rückte H. später davon wieder ab, um immer neue Geschichten aufzutischen. Ideologisch schwamm H. mit den Angeklagten auf einer Welle. Wie Gartmann gehörte auch H. der rechtextremistischen DVU an. Als Vorsitzender der DVU agiert Gerhard Frey, der mit seinen Hetzblättern seit Jahrzehnten von den Behörden ungestört jeglichen rechtsradikalen Dreck verbreiten darf. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, daß es zunächst eine Alibiabsprache zwischen den Tatverdächtigen gegeben hat. Das wird von dem Trio unisono bestritten – auch von Gartmann.

Folgt man Christian R., dem vierten Angeklagten, dann bedarf es eines solchen Alibis ohnehin nicht. R., der eine erbärmliche Heimkarriere hinter sich hat und von früher Kindheit an durch unglaubliche Gewalttaten gegen Mitschüler aufgefallen ist, erklärte dem Gericht, über seinen eventuellen eigenen Tatbeitrag wolle er vorerst zwar nichts sagen, aber die drei Mitangeklagten hätten allesamt „mit der Tat nichts zu tun“. Demnach hat Gartmann also eine Tat gestanden, ohne Täter zu sein. Warum sollte er? Um die Richter im Falle der erwarteten Verurteilung milde zu stimmen, flüstern jugendliche Freunde der beiden ihre Unschuld beteuernden Angeklagten auf dem Prozeßflur.

Bleibt die Frage, wie verrückt jemand sein muß, um als Unschuldiger die Mitwirkung an einen fünffachen Mord zu gestehen? R. hat im Verlauf der Ermittlungen schon viele Tatversionen präsentiert. Zunächst gab er sich als Einzeltäter aus, danach belastete er anonyme Skins, dann bezichtigte er die Angeklagten der Mittäterschaft, um diese Aussage schließlich erneut zu widerrufen. Für sein Alter und angesichts der Schwere der Vorwürfe agiert R., der als einziger Angeklagter im Gerichtssaal mit Jacket und Krawatte auftritt, unglaublich cool. Während aus Gartmanns Schilderungen Anflüge echten Bedauerns herauszuhören sind, und die anderen beiden ehemaligen aufgeplusterten Skins zumindest verbal eine Abkehr von den einst skandierten rassistischen Parolen bekunden, schweigt R. sich weitgehend aus. Diesem abgezockten Jüngling auch nur ein Wort zu glauben, fällt besonders schwer.