Tschernobyltrauma lähmt Weißrußland

■ In der weißrussischen Hauptstadt Minsk versuchen in dieser Woche die Veranstalter des zweiten internationalen Tschernobyl-Kongresses erneut die Aufmerksamkeit auf die dramatischen Folgen der...

In der weißrussischen Hauptstadt Minsk versuchen in dieser Woche die Veranstalter des zweiten internationalen Tschernobyl-Kongresses erneut die Aufmerksamkeit auf die dramatischen Folgen der Reaktorkatastrophe von 1986 zu lenken.

Tschernobyltrauma lähmt Weißrußland

Der Traum von der Normalisierung blieb auch im Jahre 8 nach dem großen Knall unerfüllt. Die Folgen der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl lähmen in der am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffenen Nachbarrepublik Weißrußland immer noch das öffentliche Leben; und sie verschärfen die wirtschaftliche und soziale Krise im Land. Daß es irgendwann ein Erwachen aus dem Alptraum geben wird, mag hier kaum jemand mehr glauben. Etwa 135.000 Menschen wurden aus den verstrahlten Gebieten umgesiedelt, gleichzeitig brachen Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe in den hochverstrahlten Regionen größtenteils zusammen. Nach wie vor müssen fast zwei Millionen Einwohner in den betroffenen Regionen ihren Alltag unter der Strahlenbedrohung bewältigen.

1993 mußte das Land, in dem 1986 etwa drei Viertel der radioaktiven Nuklide niedergingen, 18 Prozent seines Bruttosozialprodukts zur Eindämmung der Schäden aufbringen. Die Regierung prognostiziert für den Zeitraum von 1986 bis 2015 einen Gesamtschaden, der sich auf über 20 Jahresetats Weißrußlands beläuft.

Als Veranstalterin des zweiten internationalen Tschernobyl- Kongresses versucht „Die Welt nach Tschernobyl“ in dieser Woche in Minsk die Aufmerksamkeit des Auslands erneut auf die dramatischen und unbewältigten Konsequenzen des schwersten Unfalls in der Geschichte der zivilen Atomkraftnutzung zu lenken. Die rund 400 TeilnehmerInnen aus insgesamt 20 Ländern rekrutieren sich allerdings überwiegend aus der ohnehin in der internationalen Tschernobyl-Solidarität seit Jahren engagierten Helferszene.

Nach fast acht Jahren sind die Verstrahlungen immerhin flächendeckend kartiert, die Regierung Weißrußlands bemüht sich um eine kontinuierliche Kontrolle der im Lande produzierten Lebensmittel. Die Belastung des Bodens, berichtete E. Konoplja von der weißrussischen Akademie der Wissenschaften in Minsk, gehe viel langsamer zurück als erwartet. Partiell gebe es sogar eine Verschärfung der Situation, weil der Plutoniumfallout sich entsprechend der radioaktiven Verfallsreihe in den „mobileren“ Alphastrahler Ameritium verwandle. Regierung und Parlament machen Versprechungen, die weder sie noch sonst jemand erfüllen können: 1991 verabschiedeten die Abgeordneten das „Gesetz über den sozialen Schutz der Bevölkerung nach Tschernobyl“. Es regelt Ausgleichszahlungen, medizinische Hilfe und vieles mehr für die betroffenen Gruppen. Doch die den Menschen nach den gesetzlichen Bestimmungen zumutbaren Grenzwerten sind bei 60 bis 70 Prozent der Betroffenen in den verstrahlten Regionen längst überschritten, wie W. Nestbronko, der Direktor des Instituts für Strahlensicherheit ins Minsk, auf dem Kongreß freimütig bekannte.

Wie schon in Jahren zuvor verzeichnen die Mediziner einen dramatischen Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern. Von durchschnittlich ein bis zwei registrierten Fällen pro Jahr in Weißrußland vor dem Unfall erreichte die Zahl einen Höchstwert von 95 Fälle im Jahr 1991 und 79 Fälle im vergangenen Jahr. Die Häufigkeit der festgestellten genetischen Veränderungen bei abgetriebenen Föten hat sich in den verstrahlten Gebieten verdoppelt. Der Mediziner G. L. Zukermann vom Institut für angeborene Erbkrankheiten berichtete über Bemühungen der staatlichen Stellen, mit einem flächendeckenden Angebot von Vorsorgeuntersuchungen – insbesondere mit der Ultraschallmethode – die Häufigkeit schwerer Mißbildungen bei Neugeborenen zu reduzieren. In den am stärksten betroffenen Gebieten haben sich diese Fälle gegenüber der Vor- Tschernobyl-Zeit um 80 Prozent erhöht. Inzwischen steigt die Anzahl der mit schweren Mißbildungen geborenen Kinder tatsächlich weniger steil an, weil sich mehr Frauen bei früherkannten Schäden zur Abtreibung entschließen. Ein solcher „Erfolg“ sei unbefriedigend wie alternativlos, meinte Zukermann. Weltweit gebe es eben keine Methode, eine erhöhte Mißbildungswahrscheinlichkeit bereits vor der Zeugung zu erkennen.

Ein düsteres Bild von der Stimmung der Bevölkerung unter der Strahlenbedrohung zeichnete die Soziologin L. Agejewa nach einer landesweit durchgeführten Umfrage. Das Scheitern der Behörden bei der Bekämpfung der Tschernobyl-Folgen konserviere unter direkt wie indirekt Betroffenen Unzufriedenheit und die Furcht vor einer neuen Katastrophe. Das Leben unter permanentem Streß und weitverbreitete Zweifel, ob das Tschernobyl-Trauma irgendwann überwunden werden könne, seien verantwortlich für einen „erschreckenden Pessimismus“, der das gesamte Land in seiner Entwicklung lähme.

Ausgerechnet in dieser Situation diskutiert die Regierung den Bau zweier Atomkraftwerke in dem bisher AKW-freien Land. Einen dringenden Appell, die knappen Mittel nicht in neue nukleare Abenteuer zu investieren, sondern in eine Effektivierung der Energieerzeugung und Nutzung, richtete der Parlamentsabgeordnete Prof. Boris Sawizkij an die Verantwortlichen. Weißrußland verbraucht zur Erzeugung einer Einheit des Bruttosozialprodukts etwa 2,3mal mehr Energie als die westlichen Industriestaaten. Wer angesichts solcher Zahlen auf Atomstrom setze, sagte Sawizkij, habe die Tschernobyl-Lektion nicht begriffen. Gerd Rosenkranz, Minsk