Ein Sicherheitsproblem, das Dollar kostet, gibt es nicht

■ Während der Stromverbrauch in der Ukraine zurückgeht, steigt die Produktion von Atomstrom – dessen Erzeugung ohne die erforderliche Nachrüstung billiger kommt

Die ukrainische Regierung hat eine rudimentäre Vorstellung von Marktwirtschaft. Dazu gehört, daß Kosten, vor allem wenn sie in Devisen anfallen, vermieden werden sollten. Gas und Öl müssen im benachbarten Rußland für Dollar gekauft werden. Warum sollte die Regierung in Kiew dafür Geld aufwenden? Schließlich hat die Mannschaft von Leonid Krawtschuk ihre 15 Atommeiler. Drei davon laufen mehr oder minder regelmäßig in Tschernobyl, wenige Kilometer südlich der Grenze zu Weißrußland. Sie sind vom gefährlichen Typ RBMK – wie der Katastrophenreaktor Tschernobyl IV, der 1986 radioaktive Wolken über ganz Europa schickte. Doch das behindert ihren weiteren Betrieb nicht. Ganz im Gegenteil: „Die akzeptieren einfach nicht, daß es ein Sicherheitsproblem gibt“, beobachtet Felix Matthes vom Öko-Institut in Darmstadt. Der Ausstieg aus der Atomkraft sei für die Ukraine zwar möglich, „das Problem ist nur, daß die nicht wollen“.

Matthes hat sich davon gerade selbst überzeugen können. Zu Beginn der Woche ist er nach Gesprächen mit Regierungsvertretern aus der Ukraine zurückgekehrt. Außerdem hat er im Auftrag von Greenpeace gerade erst eine Studie über die Unsinnigkeit der Atomkraftnutzung in der Ukraine verfaßt. Sein Fazit: „Es gibt für die Energiepolitik der Ukraine harte und weiche Einflußfaktoren. Die Gasrechnung Rußlands, die in Devisen beglichen werden muß, ist ein harter Einflußfaktor, die mangelnde Sicherheit der Atommeiler ein weicher. Auf die Sicherheit kann die Regierung im Zweifel verzichten.“ Schließlich koste die Unsicherheit keine Dollar.

Dabei wäre der Ausstieg derzeit so einfach. In der Ukraine müßten ohne die drei Meiler von Tschernobyl und die zwölf anderen AKWs weder die Heizungen abgedreht werden noch die Lichter ausgehen. Der Stromverbrauch ist in dem Land in den vergangenen Jahren so drastisch zurückgegangen, daß die Atommeiler schlicht überflüssig sind. Verbrauchte die Ukraine 1990 noch 295 Terrawattstunden (TWh) Strom, waren es 1993 nur noch 228, ein Rückgang um ein Viertel. Das Öko-Institut prognostiziert, daß der Verbrauch bis 1997 sogar auf rund 150 TWh zurückgehen wird.

Auch außerhalb der Stromerzeugung bieten sich in der Ukraine enorme Einsparmöglichkeiten. Ukrainerinnen und Ukrainer verbrauchen heute pro Kopf genausoviel Energie wie Westdeutsche, bei wesentlich geringerer Wirtschaftsleistung. Es fehlt an Thermostaten, an Ventilen, an allem, was Energiesparen mit einfachen Mitteln möglich macht. „Das ist, als ob die ihre Dollar im offenen Kamin verbrennen“, moniert Matthes.

Tschernobyl ist von der mangelnden Nachfrage nach Strom bislang nicht betroffen. Statt die unsicheren Meiler stillzulegen, wird in der Ukraine sogar mehr Atomstrom erzeugt als je zuvor. Von 53 TWh 1985 vor der Katastrophe von Tschernobyl stieg die Produktion 1993 auf 75 TWh, davon 13 TWh aus Tschernobyl. Sie könnten jederzeit durch Gas-, Öl- und Kohlekraftwerke ersetzt werden. Doch nicht die AKW, sondern die Kohle-, Gas- und Ölkraftwerke wurden abgeschaltet.

Am teuersten ist der atomare Pfad

Vordergründig sprechen dafür auch ökonomische Gründe. Zwei Drittel des Stroms in konventionellen Kraftwerken wird in der Ukraine aus Gas (46 Prozent) und Öl (20 Prozent) erzeugt. Zeitweise bezog die Ukraine Öl und Gas zu einem Fünfzehntel des Weltmarktpreises von Rußland. Seit Öl und Gas jedoch zu realen Preisen bezogen werden müssen, steigt die Devisenrechnung beständig. Das wird der ukrainischen Regierung nun zu teuer. Wollte man etwa die Stromerzeugung in Tschernobyl durch das Verfeuern von Erdgas ersetzen, würde das im Jahr rund 300 Millionen Mark kosten.

Hinzu kommt der politische Widerstand. Die Beschäftigten der Atomkraftwerke verfügen in Kiew über eine beträchtliche Lobby. Die ursprüngliche Entscheidung des Parlaments, das Atomkraftwerk stillzulegen, sei in erster Linie deswegen aufgehoben worden, meinen Beobachter. Und erst in zweiter Linie wegen des dort produzierten Stroms. Der Stromexport um Devisen zu verdienen, lange Zeit ein Hauptargument für den Weiterbetrieb vom Tschernobyl, ist inzwischen fast völlig eingestellt. Exportierte die Ukraine 1988 noch 31 TWh außerhalb der GUS, waren es 1993 noch 2,7 TWh. Die wichtigsten Kunden wie Rumänien und Bulgarien haben kein Geld mehr, um Strom zu kaufen. Ohne billiges Öl und Gas lohnt sich die Stromerzeugung aus fossilen Kraftwerken für den Export nicht. Und auch das umstrittene Stromgeschäft mit Österreich (Atomstrom gegen westliche Technologie) liegt derzeit auf Eis.

Greenpeace und das Öko-Institut haben für die zukünftige Energieversorgung der Ukraine mehrere Szenarien durchgerechnet. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß für die Ukraine ein Ausstieg aus der Atomkraft bei gleichzeitigen Anstrengungen zum Energiesparen mit Abstand die billigste Lösung sei. Sie würde bis zum Jahr 2010 zwischen 7,75 und 12 Milliarden Mark kosten. Ohne Energiesparen wird es teurer, am teuersten aber ist der atomare Pfad. Für die Fertigstellung halbfertiger AKWs und die Nachrüstung einiger Altmeiler könnten leicht über 20 Milliarden Mark fällig werden. Schlimmer noch: „Wenn jemand eine Milliarde Mark in der Ukraine in ein Gaskraftwerk investiert, hat er ein Gaskraftwerk. Bei der Nachrüstung von AKWs versinken eine Milliarde Mark in einem Faß ohne Boden“, bilanziert Matthes.

Doch die Regierung der Ukraine rechnet nur kurzfristig marktwirtschaftlich, und kurzfristig ist Atomstrom billiger als Erdgas. Kraftwerke, die man nicht für unsicher hält, braucht man nicht nachzurüsten. Weshalb auch – Atomkraftfans zählen in Tschernobyl immer noch nur 31 Tote. Und das, so drückte es der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke vor einigen Jahren aus, sei „in der Geschichte der Technik keineswegs ein herausragendes Ereignis“. Hermann-Josef Tenhagen