Horch, die Zukunft kommt: Neue Welten von Südafrika

Mit dem Ende der weißen Alleinherrschaft kehrt Südafrika nach Afrika zurück – in einen Kontinent, den es eigentlich nie verlassen hat  ■ Von Willi Germund

Kalt und abweisend erhebt sich das mächtige Hochhaus mit 51 Stockwerken über die Nachbarschaft. Mit dreißig Jahren ist der kreisrunde Wolkenkratzer am Rande des Viertels Hillbrow in der Industriemetropole Johannesburg jünger als Südafrikas Apartheid. Die Mauern des architektonischen Alptraums wanken nicht. Statt dessen erhob die schwarze Zeitung „City Press jüngst den schmucklosen Apartmentblock zu besonderer Größe: „Es ist die Hauptstadt des neuen, freien Südafrika.“

Die Auszeichnung fiel dem Giganten mit 1.500 Bewohnern vor allem wegen seiner „inneren Werte“ zu. Während sich die Politik veränderte, entschloß sich die Verwaltung des Hochhauses zu einer sogenannten „Transformation“ – ein sonst nur vom ANC gebrauchter Begriff, wenn es um Südafrikas Weg von weißer Minderheitsherrschaft zur Demokratie geht. Viva Transformation, Viva, heißt es dann in Sprechchören.

Während die weiße Staatsmacht ihren Griff auf die Macht langsam lockerte und die schwarze Bevölkerungsmehrheit in die Regierung aufrücken ließ, machte das Management von „Ponte City“ den Weg zur Mietermitbestimmung frei. Viva Powersharing, Viva, würden ANC-Gruppen nun jubeln: Im Erdgeschoß des Betonkolosses finden die Bewohner Tennisplätze, eine Kirche, Supermärkte und eine Bäckerei. Der Nachtklub „Manhattan Connection“ am Fuße des Wolkenkratzers gilt als der heißeste Jazzclub der Johannesburger Szene. Wer sich auskennt, findet in einem der 467 Apartments kulinarische Genüsse aus ganz Afrika: Die Mieter haben einfach eine Wohnung mit ein paar Tischen in ein kleines Restaurant verwandelt.

„Viele Leute haben Angst vor der Gewalt. Aber hier nicht.“ Der Saxophonist Mandla Masuku, der allabendlich im „Manhattan Connection“ spielt, schwört auf Ponte City. „Ich habe Musik im Ohr“, behauptet der Musiker von sich selbst. Er gehört zu Südafrikas explodierender Jazzszene, die die neue Freiheit nach der zerfallenden Apartheid genießt wie die Luft zum Atmen.

Einst war Ponte City unter Südafrikas Weißen der letzte Schrei. Heute leben dort noch zwanzig weiße Familien, 98 Prozent der Bewohner sind schwarz. Sie stammen aus allen Ländern des afrikanischen Kontinents und darüber hinaus. Chinesen aus Taiwan, Geschäftsleute aus Ghana, Flüchtlinge aus Angola, Rauschgiftdealer aus Nigeria, Händler aus Zaire, Fotomodelle aus Äthiopien. Spötter betrachten Ponte City deshalb nicht als heimliche Hauptstadt des neuen Südafrika. Sie nennen den Wolkenkratzer in Anlehnung an Zaires Hauptstadt „Kinshasa- Tower“.

Doch selbst das begreifen die Fans von Ponte als Zeichen des „neuen Südafrika“. Schließlich hat es seit Beginn der politischen Öffnung hier Millionen Afrikaner südwärts gezogen. Südafrika mag ein Land voller Gewalt und Ungerechtigkeit sein, es mag an einer Arbeitslosigkeit von über 50 Prozent kranken – für viele Afrikaner glänzt es auch in der Krise noch wie das Paradies auf Erden.

Aber Südafrikas erster schwarzer Präsident Nelson Mandela wird mit seiner neuen Regierung nicht umhinkönnen, den Zugang von Ausländern nach Südafrika zu begrenzen. Denn zu viele Zuwanderer aus dem restlichen Afrika könnten alle Chancen verderben, den eigenen Bürgern aus dem Elend zu helfen. Auch hier könnte Ponte City Modell stehen: Im Einvernehmen mit dem Mieterrat legte die Verwaltung eine Höchstzahl von Bewohnern pro Apartment fest. So soll die Übervölkerung und Verelendung verhindert werden, die andere Wohnblocks in Hillbrow während der vergangenen Jahre heimgesucht hat.

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Mandla Masuku, der Jazzer, stammt aus Natal. In der Bürgerkriegsprovinz am Indischen Ozean ist vom swingenden „neuen Südafrika“ wenig zu spüren. Nahe der Stadt Pietermaritzburg, im Flecken Edendale, liegt versteckt hinter hohen Bäumen ein stilles Kirchenzentrum. Knurrend nähert sich ein Hund und schnuppert mißtrauisch. Auf dem Platz neben dem Haus stehen ein paar Autos. Aber keine Menschenseele läßt sich blicken. Auch Rufen nützt nichts.

Nach ein paar Minuten raschelt es plötzlich zwischen den Sträuchern der Baumschule hinter dem Haus. Der gehbehinderte Paphete Masongo stapft auf die weißen Besucher zu und lächelt etwas zurückhaltend. Zwei Weiße, die sich hierher verirren – das ist trotz aller Veränderungen nicht nur ungewöhnlich, sondern auch unheimlich. „Was hast du gedacht, wer wir wohl sind?“ muß sich Paphete necken lassen. Die Verlegenheit des 33jährigen aus Msinga, im Herzen von Zululand, ist groß. „Man weiß ja nie“, murmelt er.

Nach und nach tröpfeln die anderen Teilnehmer des Treffens ein. Gerti Mafoteng schaut mit strengem Blick auf die Tasche mit dem Tonbandgerät und schüttelt den Kopf: „Bitte nichts aufnehmen“, sagt die füllige Frau. Die anderen sieben Leute nicken zustimmend. Edendale liegt in den Natal Midlands, einem idyllisch anmutenden Landstrich aus grünen Hügeln. Hier hat in den letzten zehn Jahren der Krieg zwischen ANC und Inkatha besonders heftig getobt. Edendale genießt den traurigen Ruf, eines der Zentren der Gewalt zu sein. Jetzt geht die Angst um.

Das Treffen der Selbsthilfegruppen hat nichts mit Parteipolitik zu tun. Gerti Mafoteng bringt gute Nachrichten. „Der schwarze Mann“, so sagt die Frau auf Zulu, „hat nie Darlehen für die Landwirtschaft bekommen. Das will die Landwirtschaftsentwicklungsbank jetzt ändern. Wenn sich eine Dorfgemeinschaft zusammenschließt, kann sie bei der Bank Kredite bekommen.“ Paphete Masongo horcht auf.

Geld für schwarze Kleinbauern – das ist wirklich völlig neu in Südafrika. 87 Prozent des Ackerbodens gehören Weißen. Nur in den zehn Homelands durften Schwarze Land besitzen, und das war im allgemeinen so unfruchtbar, daß weiße Landwirte sich dafür sowieso nicht interessierten. „Wir mußten während der letzten Jahre Land pachten. Aber es gab keine Kredite von der Entwicklungsbank“, erzählt Paphete. Die Begründung der Bankiers: Der Landbesitzer bräuchte den Vertrag nur zu kündigen, und die Kleinbauern säßen mit einem Haufen Schulden und ohne Land da.

Nun rückt Paphete seine staubigen Jeans zurecht, zieht den Blazer glatt und sagt: „Das ist oft passiert. Wenn die Besitzer gesehen haben, daß wir Erfolg auf dem Acker hatten, wurde uns gekündigt. Er hat die Ernte eingefahren, und wir mußten von vorne anfangen.“ Die Darlehen können zumindest helfen, den schwierigen Anfang zu erleichtern. Etwas Dünger, besseres Saatgut – kleine Schritte, die viel ausmachen können. Aber Paphete bleibt skeptisch. Wer sagt schon, daß die weißen Landbesitzer die schwarzen Kleinbauern nicht mehr vom Land werfen, wann immer ihnen der Sinn danach steht?

Südafrikas Politiker flößen Paphete alles andere als Vertrauen ein: „Keine der Parteien hat während des Wahlkampfs wirkliches Interesse für die Anliegen der Landbevölkerung gezeigt.“ Dabei leben 1,5 Millionen Landarbeiter in Südafrika. „Wenn Sie die ganzen Wanderarbeiter in den Townships rund um Südafrikas Industriestädte dazunehmen“, erklärt David Alcock, der im Zululand aufwuchs und jetzt für ein Rechtshilfebüro in Durban arbeitet, „dann gehören 53 Prozent der südafrikanischen Einwohner zur Landbevölkerung.“ Denn die Familien der Arbeiter, die nur zu Ostern oder Weihnachten ihren Arbeitsplatz in Bergwerken oder Autofabriken verlassen, bleiben fast alle zu Hause.

Die Männer müssen in zwei Welten zurechtkommen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Hier die hochtechnisierte Stadt mit ihren glitzernden Bars und den chromglänzenden Autos. Egoli, die Stadt des Goldes, wie Johannesburg wegen seiner Bergwerke genannt wird, hatte immer schon eine hohe Anziehungskraft. 13 Millionen Menschen leben in und um die Industriemetropole. Life in Egoli is fast, „das Leben ist schnell“, ist ein oft zu hörender Whiskyspruch. Aber zogen in den letzten Jahren schwarze Südafrikaner in die reichen weißen Vororte, gab es Klagen. Das Gesetz, das Menschen verschiedener Hautfarben in verschiedene Viertel gezwungen hatte, gab es zwar nicht mehr. Doch schon die Einzugsparty einer schwarzen Familie ging gründlich daneben: Wie bei ordentlichen Festen üblich, schlachteten die stolzen Neubewohner eine lebende Kuh. Es dauerte nicht lange, bis die von weißen Nachbarn alarmierte Polizei im Garten stand – im Schlepptau Vertreter des Tierschutzvereins, atemlos, doch für die Kuh zu spät.

In Msinga dagegen, Paphete Masongos Heimat, läuft das Leben sehr langsam ab. „Msinga ist wild“, beschreibt der weiße Schriftsteller Rian Malan in seinem Buch „My Traitors Heart“ den Distrikt am Tugela-Fluß, „dort sehen Sie schwarze Männer, die Ziegen treiben, und schwarze Männer, die im BMW herumfahren. Sie sehen Zulu-Frauen vor alten Männern in schlechtsitzenden Anzügen auf die Knie gehen. Es sind Stammeshäuptlinge, denen Respekt gezeigt werden muß. Sie sehen barbusige Mädchen mit Perlenketten, die Turnschuhe an den Füßen tragen.“

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Gegensätze und Widersprüche, mit denen nicht jeder Südafrikaner klarkommt. In Venda, einem Homeland an der Grenze zu Simbabwe, kämpft die Polizei vergeblich gegen Hexenverbrennungen. Mancher wagt es nicht mehr, besonders hart zu arbeiten: „Sonst“, so weiß ein Priester in Vendas Hauptstadt Thohoyandu, „kommt sofort der Verdacht auf, er würde Zombies in seinen Diensten haben.“ Das sind die Geister von überraschend Verstorbenen – nach dem Mythos bringen Hexer und Hexen Leute mit geheimen Mittelchen um, um sie anschließend für sich schuften zu lassen.

Ein Sangoma, ein Medizinmann, in Soweto kam mit der Überbrückung von alt und neu nicht zurecht. Als ein 70jähriger Patient, der über Kreislaufstörungen und Impotenz klagte, ihn um Hilfe bat, kam dem Sangoma bald die einleuchtende Idee: Was ist stärker als ein Motor? Ein Motor braucht eine geladene Batterie. Der Patient wurde mit einem Fläschchen voller Batteriesäure auf den Heimweg geschickt, er schluckte das Mittel und starb. Der Sangoma landete im Gefängnis.

„Viele Leute hoffen, mit althergebrachten Mitteln ihr Glück in der neuen Welt des weißen Mannes machen zu können“, klagt der Sangoma Rapetse. Er stampft in einem kleinen Schüsselchen eine grünlich-gelbe Flüssigkeit zurecht, die gegen schrumpfendes Zahnfleisch helfen soll. Er lacht und bleckt die Zähne, als Beweis.

Tote Affen, ausgetrocknete Ratten, ausgenommene Vögel, Geierköpfe und Schlangenhäute stapeln sich auf den Tischen seines Marktstandes in Maseru, der Hauptstadt des unabhängigen Kleinstaates Lesotho. „Ich muß immer wieder Leute aus Südafrika nach Hause schicken, die von mir Muti für geschäftlichen Erfolg erhoffen“, ärgert sich der Mann. Erst vor zwei Tagen wollte ein Kunde „Baby-Muti“ – das Fingerglied eines Kindes, das in der Brusttasche getragen wird und für ausreichend

Geld sorgen soll. Immer wieder werden in Südafrika Kinder entführt und ermordet, weil Körperteile als Muti dienen sollen.

Der Glaube an solche Talismane gehört zum weniger bekannten Teil einer Kultur, die sich gerade im „neuen Südafrika“ mit seiner Verstädterung und Vermischung hartnäckig hält. „Ich glaube nicht an den Hokuspokus eines Medizinmannes“, sagt John Sibyane, Mitarbeiter im Hauptquartier des ANC in Johannesburg. Aber würde er öffentlich gegen den Spruch eines Sangoma antreten? Sibyane zögert. Dann sagt er: „Nein.“

Auf Muti setzen daher auch die Krieger in Natal, auf beiden Seiten. Der dicke schwarze Streifen auf der Stirn soll sie schützen und Kraft geben im Kampf. Mit Speeren und Hackmessern streifen sie durch das Dickicht zwischen den Wellblechhütten in den Townships – immer auf der Hut und immer auf der Suche nach „Eindringlingen“. „Wir müssen zurückschlagen, wir müssen uns wehren“, sagt Moshane Mthala, ein 38jähriger Vater von zwei Kindern in Bhambaye bei Durban, „denn sonst müßten wir hier von unserem Land wegrennen.“ Mthala gehört zu den „Roten“, den Anhängern des ANC. Auf der anderen Seite der „Grenze“, einem kleinen Bach, stehen die „Grünen“ von Inkatha.

„Es ist furchtbar“, sagt Richard Mthimkhulu aus Bhambaye. „Nur zu Hause, in der Transkei, können wir ein Bier miteinander trinken“, erzählt sein Freund John Kwetshube. Richard nickt zustimmend: „Ja, wenn wir in die Transkei fahren oder wenn wir arbeiten, dann sind wir die besten Freunde.“ Aber nach Feierabend steigen Richard Mthimkhulu und John Kwetshube in getrennte Kleinbusse – sie wohnen auf verschiedenen Seiten der Trennungslinie.

Der Krieg in Bhambaye entzündete sich einst am Streit über die Kontrolle des Marihuanaverkaufs. Die Polizeispezialeinheit ISU rückte ein, und plötzlich brannten Dutzende von Hütten. Es dauerte nicht lange, bis Inkatha einen Ortsverein aufmachte – in einer Gemeinschaft, die vorher komplett hinter dem ANC stand.

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Bhambaye ist geteilt. Die Township mit dem aus dem indischen Bombay abgeleiteten Namen ist nur mehr eine Ruine – und zwar eine, die täglich ein Stück weiter verschwindet. Jeder Ziegelstein, jedes Stück Draht – alles ist verwertbar. Alle leben am Rande des Existenzminimums oder darunter – wie die Mehrheit der Schwarzen Südafrikas. Rund 16 Millionen der insgesamt 40 Millionen Bürger des Landes vegetieren laut einer Studie unter der Armutsgrenze und hoffen auf ein besseres Leben im „neuen Südafrika“.

Peter Dladla in Sebokeng, 80 Kilometer südwestlich von Johannesburg, gehört zu den rund zehn Millionen jungen Südafrikanern, die als „verlorene Generation“ eingestuft werden. Statt zur Schule zogen sie in den Straßenkampf gegen die Polizei. Statt beim Kricket die Bälle zu werfen, avancierten sie zur meisterhaften Beherrschung von Steinschleudern. Mit Mühe schaffte Peter vor zwei Jahren sein Abitur. Jetzt hockt er in einer Taverne namens La Mancha, in einer dunklen Seitengasse gleich neben einem hohen Flutlichtmast.

Der Mast wurde einst errichtet, um nachts für Beleuchtung zu sorgen, weil die Straßenlampen immer mit Steinen zerstört wurden. Aber die findigen Jugendlichen vermuteten, daß die Sicherheitskräfte nur nachts Regimegegnern nachstellen wollten. Prompt machten sie den Lampen mit Schleudern und Quashas den Garaus, selbstgefertigten Pistolen aus Draht und einem Stück Rohr, die den Nachteil haben, manchmal nach hinten loszugehen.

Peter Dladla hat die Kampfzeiten heil überstanden. „Meine Eltern können einfach nicht das Geld aufbringen, damit ich weiter zur Universität oder auf eine technische Hochschule gehen kann“, sagt er. „Vielleicht klappt es nächstes Jahr.“ Aber die größten Hoffnungen setzt er auf den ANC. Nach der Wahl, so glaubt er, wird es vielleicht irgendwo eine Stelle in der Verwaltung geben. 500.000 Arbeitsplätze will der ANC laut seinem Wahlprogramm in den kommenden fünf Jahren schaffen. Jährlich kommen 450.000 Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt.

Vor der endgültigen Übergabe der Macht an die schwarze Mehrheit zerbricht sich der Stab von Nelson Mandela aber über ganz andere Dinge den Kopf. Südafrikas Apartheid-Diktatur liebte den Prunk westlicher Demokratie und britischer Pferderennen. Keine Nachrichtensendung zur Parlamentseröffnung, in der nicht ein Beitrag den Kleidern der Ehefrauen von Politikern gewidmet war.

Wie sieht aber im „neuen Südafrika“ die Kleiderordnung aus? Nelson Mandela, ganz Grandseigneur, würde gern wie die Großen dieser Welt Frack samt Schwalbenschwanz anlegen. Aber einige ANC-Mitglieder pochen auf das afrikanische Erbe – und sähen Mandela gerne in einem bunten afrikanischen Hemd. Noch ist die Schlacht nicht entschieden. Die Zukunft Südafrikas auch nicht.