■ Goražde und die internationale Öffentlichkeit
: Lehrmeister Krieg?

Nach wie vor lautet angesichts des Krieges in Bosnien-Herzegowina die entscheidende Frage: Ist der Einsatz bewaffneter Macht seitens der „internationalen Staatengemeinschaft“ geeignet, einer fairen Verhandlungslösung den Weg zu bahnen? Diese Frage beinhaltet eine Beweislast: Die Befürworter einer gezielten militärischen Intervention müssen Gründe für die Annahme beibringen, daß die serbische Seite das „Signal“ versteht und entsprechend reagiert. Verlauf und Ergebnis des gegen die bosnischen Serben vor Sarajevo verhängten Ultimatums halten eine Antwort bereit: Das serbische Militär beugte sich dem militärischen Druck. Statt aber aus der erfolgreichen Drohung die Konsequenz zu ziehen und sie auf alle Schutzzonen der UNO zu erstrecken, beeilten sich die Nato und EG-Staaten, die Nichtübertragbarkeit des Beispiels von Sarajevo zu erklären. Das war das Signal für den serbischen Angriff auf Goražde.

Warum agierte „der Westen“ in der beschriebenen Weise? Ein Argument lautet, Rußland würde bei einem weiteren Luftangriff seine Vermittlungsarbeit einstellen (die es den Serben gestattet, ihr Gesicht zu wahren), im Sicherheitsrat der UNO auf Konfrontationskurs gehen und damit die Zusammenarbeit mit dem Westen auch auf anderen Gebieten in Frage stellen. Diese Befürchtung hat sich als grundlos herausgestellt. Die russische Balkanpolitik ist nicht dem großserbischen Projekt verschworen, sondern dient dazu, von den USA als gleichberechtigter „Partner“ akzeptiert zu werden. Letztlich möchte die russische Regierung erreichen, daß die USA der Russischen Föderation in bezug auf ihr „nahes Ausland“ die gleiche hegemoniale Rolle zugestehen, wie sie die USA einst mittels der Monroe-Doktrin in Anspruch nahmen. Jugoslawien aber gehört gerade nicht zu der von Rußland proklamierten „Sphäre vitalen Interesses“.

Oder haben sich EG/Nato unter der Federführung Englands und Frankreichs schon längst mit den serbischen Machthabern darauf geeinigt, die ostbosnischen Enklaven Serbien zuzuschlagen? In diesem Fall, so wird argumentiert, wäre zu befürchten, daß die serbische Seite im Falle eines Luftangriffs bei Goražde an anderer Stelle zugestandene Gebietskonzessionen zurücknimmt. Ein Angriff zum Entsatz Goraždes verlängere deshalb den Krieg und erhöhe nur die Opfer unter der Zivilbevölkerung. Im Ergebnis würde sich die Preisgabe der ostbosnischen Enklaven schließlich doch als unvermeidlich herausstellen.

In dieser Argumentation steckt ein fataler Denkfehler. Nur der „Lehrmeister Krieg“ ist imstande, einer Machtelite, die alles auf die Karte militärischer Expansion gesetzt hat, gezielt ihre Grenzen aufzuzeigen. Die serbischen Potentaten haben vor Sarajevo gezeigt, daß sie sich dieser Art von Logik nicht verschließen. Auch der Wahnsinn läßt rationale Kalküle zu. Wie aber, wenn EG und Nato trotz der Erfahrungen nicht nur des bosnischen, sondern auch des Zweiten Weltkriegs auf ihren Fehlkalkulationen beharren, wenn sie einem möglichen, höchst unsicheren Ergebnis (dem raschen Friedensschluß) gegenüber einer todsicheren Folge (der Vertreibung und vielfach dem Tod der Menschen in Goražde) den Vorzug geben? Geheimdiplomatie mag unvermeidlich sein, ihre inhumanen Ergebnisse sind es nicht. Auch das Ultimatum von Sarajevo war in der Agenda westlicher Bosnien-Politik nicht vorgesehen. Es war die Weltöffentlichkeit, die es erzwang. An uns, dieses Ergebnis zu wiederholen. Christian Semler