„Hier riecht man doch kaum was“

■ Hamburg von unten: taz-Plaudereien mit Hochbahn-Planern auf Geisterbahnhöfen, mit dem Sielbezirksleiter vom Untergrund und mit dem Zivilschutzverwaltungsbeamten im tiefsicheren Bunker Von Andrew Ruch

Auf dem Bahnsteig liegt fingerdick Staub. Ein Emailleschild weist noch auf die Straßenbahnverbindung hin, und eine große Plakatwand wirbt mit der baldigen Eröffnung des „Horten“-Kaufhauses: am 31. Oktober 1968 in der Mönckebergstraße. Seitdem wartet die Haltestelle im Hauptbahnhof Nord auf die U4, die niemals einfahren wird. Und auch die Werbeplakate hoffen vergebens, seit über einem Vierteljahrhundert, Kunden auf sich aufmerksam machen zu können. Mitten im Zentrum Hamburgs liegt dieser „Geisterbahnhof“. Hinter einem Holzzaun liegt er verborgen. Fährt man mit der Rolltreppe hinab zur U2, kann man über den Lattenzaun einen Blick auf diese bizarre Szenerie werfen. „Hier soll demnächst eine Krimiszene gedreht werden“, sagt Joachim Häger, Sprecher der Hamburger Hochbahn Aktiengesellschaft (HHA). Und beklagt den dafür nötigen Aufwand. Schließlich soll der normale Betrieb auf dem gesamten Bahnhof weitergehen.

Kaum etwas ist seit Fertigstellung des Tunnels verändert worden. Richtung Ausgang wirbt das Passage-Kino für Oswald Kolles Aufklärungsfilm Das Wunder der Liebe, der schon in der zweiten Woche läuft, daneben ein weiteres Filmplakat, dessen Titel bereits abgeblättert ist; Heinz Rühmann ist noch zu erkennen. Auch ein Mikrofon für den Bahnsteigbeamten gibt es hier noch. Nebenan, wo die U2 abfährt, ist der Betrieb längst auf Überwachungskameras umgestellt. Der Bahnhof ist komplett. Lediglich die Gleise in beide Richtungen fehlen.

Der Hauptbahnhof Nord ist Ende der sechziger Jahre entstanden. „Aus Kostengründen ist der Bahnsteig 1968 gleich mitgebaut worden“, erklärt Häger. Über Uhlenhorst – Winterhude – Barmbek sollte die Strecke der projektierten U4 bis nach Fuhlsbüttel führen. Doch was erst noch vorausschauend und kostensparend schien, erwies sich später als Fehler. Häger: „Die Gleise hätten zuviel bebautes Gebiet durchquert, ganze Wohnhäuser wären abgerissen worden.“ In der unbesorgten Planungswut der „Wirtschaftwunderzeit“ schien dies noch niemand ernstlich zu kümmern. Nach Altona und Lurup, bis Neumühlen und Steinwerder wollte man damals das U-Bahnnetz erweitern, doch dann gewann die Bundesbahn die Ausschreibung und verlegte dort die S-Bahn.

Rudimente des unaufhaltsamen Wachstumswillens der Hochbahn sind heute noch an anderen Orten Hamburgs zu sehen. Zum Beispiel am Jungfernstieg, wo direkt neben der U2 zwei ungenutzte Bahnsteige liegen. „Hier kein Zugverkehr“, heißt es auch dort seit 25 Jahren. Hier war die Linie Richtung Lurup geplant.

Doch auch schon viel früher korrespondierten Fortschrittsglauben und Realität nicht immer miteinander. Ende 1921 wurde die Walddörferbahn bis Großhansdorf eröffnet. Ursprünglich sollte die Strecke aber bis zur Haltestelle Beimoor führen, wo Hamburg ein Neubaugebiet erschließen wollte. Diese Idee ist bis heute nicht umgesetzt worden. Wohl aber die komplette Haltestelle Beimoor – ein solider Backsteinbau –, die seitdem mit über einem Kilometer Bahndamm mitten in der „Walachei“ steht.

In Sachen „U4“ ist die Hochbahn allerdings hartnäckig. Obwohl die Pläne längst zu den Akten gelegt sind, wurde in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder etwas Neues für die imaginäre „4“ gebaut. So ließ die Aktiengesellschaft bei der 1975 eröffneten Haltestelle Sengelmannstraße noch einen zweiten Bahnsteig miterstellen. Hier sollten die Züge aus Richtung Innenstadt und Winterhude ankommen. Noch heute ist die Anlage durch Holzdächer geschützt. Letzte Bau-Aktion für die U4 war ein Hilfstunnel unter der S-Bahn Altona, der während des Umbaus zwischen 1979 und 1981 entstand.

Joachim Häger, leidenschaftlicher „Hochbahner“, mag nicht glauben, daß die Baumaßnahmen für die „Geisterbahnhöfe“ vergebens waren: „Wer weiß, vielleicht werden die Pläne doch noch eines Tages wieder ausgegraben.“

***

Geschwindigkeiten über 40 Stundenkilometer seien für den Menschen gesundheitsschädigend, meinten englische Wissenschaftler Anfang des 19. Jahrhunderts. Als Stephenson 1825 in England die erste Eisenbahn vorstellte, rieten sie aus diesem Grunde davon ab mitzureisen. Die Zeiten ändern sich: heute fahren selbst Vorortzüge dreimal so schnell. Der ebenfalls aus England stammende Bauingenieur William Lindley hatte Anfang 1843 ähnliche Probleme, das Volk für seine innovativen Ideen zu begeistern. Gerade hatte Lindley den Hamburgern die Pläne für sein neues Kanalisationsprojekt vorgestellt, da kamen auch gleich die ersten Beschwerden: Die Bürger befürchteten eine starke Geruchsbelästigung.

Zu Besuch bei William Lindley

Ihrer Meinung nach konnte man diese unterirdischen Abwasserleitungen nicht richtig belüften, und das wollte man auf keinen Fall hinnehmen. Eine heute kaum nachzuvollziehende Sorge, ent-sorgte man die Fäkalien doch damals über die Fleete oder die sogenannten Hasenmoore – Überbleibsel der alten Stadtgräben. Da dünstete im Sommer alles schön in der Sonne, was vorher den Abort hinuntergeplumpst war. Regnete es endlich, floß der ganze Schiet stinkend in die Alster oder Elbe.

Doch Lindley konnte alle Geruchs-Zweifel beseitigen und machte seine Arbeit so gut, daß das Hamburger Sielnetz seinen Konstrukteur um über 90 Jahre überlebte. Selbst die Fachleute sind heute erstaunt darüber, wie sorgfältig man damals plante und baute – trotz aller Schäden, die in jüngster Zeit in den alten, aus Ziegeln gemauerten Sielen entdeckt werden. Die „Garantiezeit“ haben sie jedenfalls überstanden, und die war nicht kurz: 77 Jahre setzt die Stadtentwässerung als durchschnittliche Lebensdauer für ein Siel an.

5000 Kilometer ist das Hamburger Sielnetz lang. 600 Kilometer sind gemauert, 500 begehbar, 35 Kilometer sind sogar mit Booten zu befahren. „Bewohnt“ wird die Kanalisation übrigens auch: Von „einigen“ 100.000 Ratten. Wagt man sich einmal hinunter in das Sielnetz, bekommt man eine vage Vorstellung davon, wie es früher in den Fleeten gerochen haben muß. Selbst nach Stunden – der Gesichtserker wird längst von ungewöhnlich wohlriechender Großstadtluft umweht – erinnern Dunstschwaden aus der Kleidung an das nasale Erlebnis. Aber Geruchsempfindungen sind unterschiedlich: „Hier riecht man doch kaum was“, meint Sielbezirksleiter Hans-Werner Ptok, während eines „Gulli-Spaziergangs“ am Rückhaltebecken unter der Augustenburgerstraße. Zwar ist das 1915 gebaute und 1984 renovierte Becken lediglich ein Rückhaltebecken für Regenwasser, aber für „Laien“ riecht es eben doch. Die Nase von Fachmann Ptok ist da wohl nicht mehr die sensibelste.

Rund 7500 Kubikmeter Wasser passen hinein, fast sechs Meter hoch sind die Wände. Das Becken – welches eigentlich eine mit Säulen abgestützte Halle ist – dient als Speicher, wenn die Kapazitäten des Sielsystems bei starkem Regen nicht ausreichen. Ist das Sielnetz wieder aufnahmefähig, fließt das Wasser aus dem Becken wieder zurück und von da aus in die Klärwerke. „Nur zweimal konnten im letzten, regenreichen Jahr die Wassermassen nicht gespeichert werden“, erklärt Gerd Eich. Was bedeutet: Die ganze Scheiße landet wie zu alten Zeiten in der Alster. Durch den verstärkten Ausbau von neuen Sammler- und Transportsielen soll dies aber immer seltener vorkommen.

Handfestere Probleme erwartet die 900 Männer (keine Frauen) von der Schmutzbeseitigung in der Kanalisation. „Die Kollegen haben große Probleme damit, wenn die Leute Dinge die Toilette herunterspülen, die in den Abfall gehören,“ bemerkt Gerd Eich, Sprecher der Stadtentwässerung. Am schlimmsten seien Rasierklingen, die, wenn sie zufällig mit der Schneidefläche hochstehen, schon einen Gummistiefel durchdrungen hätten. „Selbst Spritzen haben wir schon gefunden“, beklagt Eich. Besonders erstaunlich, da diese in den Sielen unter Krankenhäusern gefunden wurden. „Wenn eine Toilette nur zu dem benutzt würde, für was sie gedacht ist, hätten wir kaum Probleme mit unserer Arbeit“, betont Eich. Wattestäbchen (“Q-Tips“), die sich im Wasser aufblähen, haben zum Beispiel schon öfters Pumpen verstopft.

Ein viel größeres Problem ist die Sanierung des alten Kanalisationssystems: 129 Millionen Mark sind allein in diesem Jahr notwendig. Mehr als die Hälfte der Mittel für Investitionen, über die die Stadtentwässerung insgesamt verfügt. Doch dieses Geld reicht bei weitem nicht aus, um das System überall dicht zu halten. Kummer, den sich viele öffentliche Einrichtungen teilen und bei dem die Umwelt draufzahlt.

William Lindley trifft daran keine Schuld. Er hätte wohl selbst kaum geglaubt, daß auch heute noch, nach 150 Jahren, sein 943 Kilometer langes „Stammnetzsiel“ unverzichtbar sein würde.

Lebensmittel sind leicht zu beschaffen

Jürgen Sokolowski hat einen undankbaren Job: Er muß Maschinen und Gebäude in Schuß halten, die keiner braucht und dabei auch noch hoffen, daß sie niemals benötigt werden. Herr Sokolowski ist Verwaltungsbeamter für Zivilschutz. „Ich wünsche mir, daß die Anlage niemals zum Einsatz kommt“, sagt er drei Stockwerke unter dem Hauptbahnhof über den von ihm hier verwalteten Atombunker. Und es klingt zweifellos ehrlich. 27 Anlagen, wie Sokolowski die Bunker nennt, betreut er im Bezirk Hamburg Mitte. Mehrmals im Jahr besichtigt der Beamte die Schutzräume und koordiniert Arbeiten zur Instandhaltung der Betonbauten.

Viele Mittel stehen ihm dafür nicht zur Verfügung; wie wenig, will Sokolowski aber leider nicht verraten. Doch der optische Eindruck spricht für sich. Der Hauptbahnhofbunker, Ende der dreißiger Jahre erstellt und Mitte der sechziger Jahre umgebaut, hat etwas von Raumschiff Orion. Billige Tasten und Schalter, die an Klingelknöpfe von SAGA-Wohnblocks zu Adenauers Zeiten erinnern, ein Kofferradio, das den Namen noch verdient, und Telefonapparate, um die sich Sammler schlagen würden.

Muffig riecht es dort unten, wohin im „Ernstfall“ rund 2400 Menschen „fliehen“ sollen. „Für mindestens zwei Wochen Überlebenszeit ist die Anlage ausgelegt“, erklärt Sokolowski. Etwas zu essen ist aber nicht eingelagert. „Lebensmittel sind doch leicht zu beschaffen.“ Nur mit dem Kochen dürfte es schwierig werden, denn für jede Bunkerhälfte ist nur eine elektrische Doppelherdplatte vorhanden. „Da sollte man für –ne Tasse Kaffee vorher lieber Nummern ziehen lassen“, witzelt taz-Fotograf Henning Scholz und auch Sokolowski kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Aber das Dienstgesicht ist schnell wieder da: „Die Anlage soll ja nur dem Überleben dienen.“ Doch selbst das dürfte schwer sein. Die Etagenbetten scheinen nach der DIN-Norm konstruiert. Jeder Schutzsuchende über 75 Kilogramm dürfte dem unter ihm liegenden breit im Gesicht hängen. Kinder werden sich dafür wohl in den harten Metall-Plastik-Betten wie auf einem Holzbrett vorkommen.

Erste (Holz-)Klasse auch die Sitzgelegenheiten: schön feucht und mit Sicherheitsgurten. Die Enden bei einem Selbstversuch zusammen zu bekommen scheiterte kläglich. Auch der Sinn ist fraglich. „Die Gurte sind für den Fall von Bodenbewegungen bei Bombendetonationen“, erklärt Jürgen Sokolowski mit ungerührter Beamtenmine. Gruselig auch die alte Beschriftung des Bunkers: „Bunkerwart“ oder „Essensausgabe“ in deutschen Schriftzeichen lassen erkennen, daß der brave Amtmann hier einst ohne historische Berührungsängste die „traditionelle“ Bezeichnungen übernommen hat.

Ob Krieg oder Frieden, als „Schutzraum“ ist der marode Bau unter dem Hauptbahnhof wohl kaum zu bezeichnen. Die ganze „Wartungsarie“ die man dem Gebäude noch angedeihen läßt, erlaubt eigentlich nur den Schluß: Die Politiker wollen sich immer noch nicht eingestehen, daß solcher Zivilschutz ohnehin unsinnig ist. Würde die „Pflege“ eingestellt, wäre dies ein Eingeständnis einer verfehlten Politik.

Immerhin, in Hamburg-Mitte erfüllen die Bunker wenigstens einen Sinn: Sie schützen Jürgen Sokolowski vor Arbeitslosigkeit.