Fünf Kilometer Richtung Himmel

Der Kilimanjaro in Tansania wirkt wie eine Droge. Tropische Bergsafari auf einem kolonialen Natur- und Geschichtslehrpfad  ■ Von Helmut Geist

Nur drei Grad südlich des Äquators ragt das Bergmassiv des Kilimanjaro, mit 5.895 Metern der höchste Punkt Afrikas, aus der tansanischen Steppe fast fünf Kilometer Richtung Himmel – und wirkt wie eine Droge.

Das Spektakuläre an einer Bergsafari ist, landschaftsökologische Zonen, wie sie sich vom Pol bis zum Äquator über Hunderte von Kilometern breitenkreisparallel erstrecken, in wenigen Stunden zu durchwandern: tropisch-feuchte Berg- und Nebelwälder, Heidekraut- und Graslandzonen von afro-alpinem Charakter, mondlandschaftsähnliche Fels- und Frostschuttregionen und die Schnee- und Gletscherwelt des Kibo-Kraters.

Die Zeit der organisierten Bergsafaris begann 1932, als europäische Kaffeepflanzer Preise weit unter ihren Gestehungskosten hinnehmen mußten. Familien wie die Lanys, 1899 aus Leipzig zugewandert, entschlossen sich, „Leute auf den Berg zu bringen“. Suchten in der deutschen Kolonialzeit (bis 1918) nur einige Reisende Marangu auf, so kamen in der britischen Ära (bis 1963) schon rund fünfzig Personen pro Jahr. Ein 1925 gedrehter Ufa-Film über eine Bergexpedition war die beste Promotion. In der nachkolonialen Zeit lösten Mund-zu-Mund-Propaganda und der 1976 eröffnete „Kilimanjaro International Airport“ einen Besuchsboom aus.

Spektakulär wie die Dichte der Ökozonen auf engstem Raum ist die Zahl der vorwiegend jungen, europäischen BergtouristInnen. In den letzten zehn Jahren ist sie von jährlich fünftausend auf weit über zehntausend angestiegen. Waren Anfang der achtziger Jahre maximal dreißig Personen pro Tag im Bergmassiv unterwegs, queren heute in den besten Wandermonaten Januar und Februar täglich bereits doppelt bis dreifach so viele Menschen das zentrale Eingangstor nördlich von Marangu. Die Einnahmen aus Gebühren für Eintritt, Bergführung, Unterkunft betrugen 1991 310.130.000 Schillinge (etwa 1,4 Millionen Mark). Der kleine Berg, der Hügel (kilima) in seinem leuchtenden Weiß (njaro) ist eine Droge nicht nur für Bergbegeisterte.

Marangu (1.420 Meter) ist Ausgangspunkt des 45 Kilometer langen Trails (Dauer: fünf bis sechs Tage) zum Uhuru Peak, der vormaligen Kaiser-Wilhelm-Spitze. Schon 1889 diente die alpin anmutende Bergsiedlung den deutschen Erstbesteigern als Basislager. Der dort residierende Häuptling Marealle schien den wazungus umgänglicher als Häuptling Mandara von Moshi, der einen direkten Draht zum deutschen Kaiser hatte (und von letzterem mit preußischer Offiziersuniform und Pickelhaube bedacht wurde). Wer am National Park Gate (1.860 Meter) eintrifft, hat die flache Trockensteppe von Himo ebenso hinter sich gelassen wie die üppige Gartenlandschaft der Chagga am unteren Berghang. Selbstbewußt und freundlich grüßen die Menschen: Hujambo! Habari gani? Karibu! Welcome in the land of Kilimanjaro! Eine Bronzetafel am Beginn des Trails (in Deutsch) erinnert an die Erstbesteiger: den Salzburger Alpinisten Ludwig Purtscheller und den aus dem thüringischen Hildburghausen stammenden Geographen Hans Meyer (Verleger in Leipzig und Enkel des Begründers von Meyers Conversations-Lexikon). Und daneben – Fragen eines lesenden Trägers – die später hinzugefügte Auflistung der Namen aller einheimischen Begleitpersonen (in Englisch und Suaheli). Da die jüngste Politikmaßnahme der Nationalparkverwaltung vorschreibt, jede Bergsafari von einer im tansanischen Handelsregister eingetragenen Agentur organisieren zu lassen, kann das Procedere am Eingangstor dauern: Reiseagent trifft Bergführer, Führer ermittelt Träger, da ein Kiosk, dort die Rezeption, Formulare, Wartezeiten, Gitterzäune. Uniformierte schwarze Ranger patrouillieren lässig zwischen Gruppen wartender Weißer (76 Prozent der TouristInnen sind Europäer, allein 18 Prozent Deutsche). Grenzabfertigungsstimmung am Tor zum ökologischen Hochsicherheitstrakt, vermengt mit der Aura eines Volkswandertages im Oberpfälzischen.

Schnell jedoch zerstäubt die Irritation beim Eintritt in den Nebelwald. Die beängstigend märchenhafte Stille einer dunstverschleierten Regenwaldszenerie und, nach dem Aufstieg zum Maundi-Krater, der Blick auf eine der anmutigsten Berg- und Hügellandschaften Afrikas: grün und – entgegen Hemingwayscher Diktion – zart, sanft und (noch) versöhnlich stimmend. Eine halbe Stunde nach dem morgendlichen Aufbruch von der Mandara-Hütte (2.882 Meter) endet der Bergwald abrupt, wie der Schritt ins Freie durch das Portal einer Kathedrale. Eine baumfreie, gewellte Terrassenfläche öffnet den Blick von der zerklüfteten Felsruine des Mawenzi zum majestätisch schneebedeckten Kibo: hoch, sonnenbeschienen und unvorstellbar weiß.

Überwältigt und voll Andacht ging hier der erste wazungu, der den Bergriesen zu Gesicht bekam, der schwäbische Missionar Johannes Rebmann, 1848 in die Knie und betete den 111. Psalm seiner englischen Bibel: „Er läßt verkündigen seine gewaltigen Taten ...“ Eher weltlich gesinnt tat es Baron Carl Claus von der Decken an derselben Stelle mit Champagner. Ab hier und heute ist der Bergregel des behutsamen Aufstiegs (pole, pole – langsam, langsam) kein Glauben mehr zu schenken, wenn guides, porters und rekordgeile climbers in ausgetretenen, teils müllgesäumten Pfaden durch die Alpinsavanne nach oben drängen.

Ein Zwangspunkt kommunikativer Dichte ist die Gemeinschaftshütte jeder Bergstation, allabendlich zur dinner-time: Wohnzimmer, Kantine und Kneipe in einem. Hier sortieren sich die menschlichen Affinitäten nach den Zuneigungskriterien von Pauschal- und Individualreisenden, Tips und Neuigkeiten werden ausgetauscht, und es formieren sich – fahle Schimmer des Skihüttenunwesens – die ersten Sauf- und Kartenzirkel. Sehr apart bleiben die einheimischen Begleiter in ihrer verräucherten Koch- und Schlafstube. Die tagsüber wolkenverhangene Horombo-Station (3.719 Meter), fast auf Großglockner-Höhe, gilt nicht zu Unrecht als kritische Schwelle der Bergsafari. Dies bestätigen, einen Tagesmarsch entfernt, die grotesken Heerlagerverhältnisse in der direkt am Fuß des Kraterkegels gelegenen Kibo-Hütte (4.694 Meter) in den Stunden kurz nach Sonnenuntergang: die einen lungern herum, die anderen leiden, und kaum jemand hat mehr Appetit.

Auf halbem Weg zur Hütte, bei etwa 4.300 Metern (Baron von der Decken hatte 1862 hier aufgegeben), ließ Charles New, ein britischer Missionar, der als erster Europäer 1871 den Kibo-Schnee auch zu fassen bekam, die einheimischen Führer und seinen Gefährten Tofiki („Er sank nieder und konnte kaum noch sprechen“) zurück. Schließlich erreichte er den Schnee, massenhaft auf Lavaklippen liegend („wie große, schlafende Schafe“). Das langsam ansteigende Wegstück von der verschneiten Hütte fällt heute noch unvorhergesehen schwer (noch nicht einmal Mont-Blanc-Höhe). Scheinbar ohne Grund werden die Schritte langsamer, die Verschnaufpausen länger, und die Grundstimme innerer Befindlichkeit klagt: Why am I doing this?

Weniger als die Hälfte der BergtouristInnen erklimmen in einer letzten, grandiosen Strapaze, die kurz nach Mitternacht an der Kibo-Hütte beginnt, den Kraterkegel. Nur zu erahnen ist die riesige, immer steiler werdende Lavaschutthalde, über die in engen Serpentinen der Pfad zum Dach Afrikas hinaufführt. In der Hans- Meyer-Höhle (5.150 Meter, nun weit über Mont-Blanc-Niveau) singt eine Bergcrew leise „Stille Nacht...“. Die Höhle ist ein traditioneller Rastplatz. Von hier treten nicht wenige den Rückweg an.

Ab 5.300 Metern beginnt dröhnender Herzschlag die Grundmelodie des Why am I ...? zu überlagern, zur Resonanzkatastrophe aufzuschaukeln. Der ungarische Graf Teleki hatte 1887 hier den Rückzug angetreten, als seine Lippen zu bluten begannen und die Höhenkrankheit ihn überwältigte. Zum Bergstab umfunktionierte Skistöcke, im Nebelwald noch bizarre Mitbringsel, tun jetzt ihren Dienst. Keine Serpentinenkehre ist mehr ohne Verschnaufpause zu bewältigen, und selbst der Mageninhalt kann nicht mehr von der dünnen Luft gehalten werden. Otto Ehlers stieg im November 1887, nachdem er seinen kotzenden Begleiter höhenkrank zurückgelassen hatte, bis zum Eiskappenrand und fand einen gletscherfreien Zugang zum Rand des Kraters. Er gilt als Erstbesteiger des Kraterrands am Gillman's Point: 5.685 Meter.

Am 6. Oktober 1889 um 9 Uhr morgens erreichen Meyer und Purtscheller über einen Gletscher, den Meyer nach seinem Kollegen Friedrich Ratzel benannte, bei leuchtendem Mond den Kraterrand. Ohne Aufenthalt marschieren sie weiter Richtung Gipfel, zur mittleren und höchsten der drei aus losen Trümmern bestehenden Felsspitzen. Um 10.30 Uhr betritt Meyer als erster die knapp 6.000 Meter hohe Mittelspitze, pflanzt unter Herrn Purtschellers kräftigen Hurrarufen die deutsche Fahne auf und tauft den Trümmerhaufen nach dem kaiserlichen Namenspatron.

Auf dem Rückweg durch die Kältewüste des Kibo-Sattels wandert der Blick vom Meyer- und Purtscheller-Gipfel des Mawenzi zurück zum Rebmann- und Decken-Gletscher des Kibo, flankiert von den Bismarck-Türmen. Es sei eine „nationale Pflicht“, schwadronierte Meyer damals, „daß der Gipfel des Kilimanjaro, zweifellos des höchsten deutschen Berges, der von einem Deutschen (Rebmann) entdeckt und von einem Deutschen (von der Decken) zuerst näher untersucht worden ist, doch zuerst von einem deutschen Fuß betreten werde“.

Schwindende Euphorie angesichts eines prinzipiell kolonialtouristischen Vorhabens klammert sich hämisch an den seit 1889 kontinuierlich dahinschmelzenden Ratzel-Gletscher. Er wurde so benannt nach dem „verdienten“ politischen Geographen, der als Mitglied des Deutschen Kolonialvereins das Konzept vom „Lebensraum“ prägte (nahtlos in den semantischen Hof der NS-Terrorpolitik passend) und 1890 den einflußreichen, sozialdarwinistisch- antisemitischen Alldeutschen Verband begründete. Er tat dies zusammen mit dem Reichskommissar und blutigen Kolonialhelden Carl Peters, dem Gründer der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft („Leider führt mein Weg über Leichen“, schrieb er seiner Schwester). Ohne das Zutun dieser beiden hätte es das größte und wichtigste Kolonialgebiet des zweiten deutschen Kaiserreichs nicht gegeben. An den „deutschen Herrenmenschen“ erinnert heute nicht nur der Hannoveraner Petersplatz (dort setzten ihm Nationalsozialisten 1935 ein Denkmal), sondern auch die jüngste gesamtdeutsche Edition des „Diercke- Schul- und Weltatlas“. In ihm ist die Peters- (und Bismarck-)Hütte dort verzeichnet, wo seit 1962 die in Horombo (und Mandara) umbenannte Bergstation liegt.

Die Wiederentdeckung Deutschlands beim Wandern. Linderung verschafft allenfalls jene jugendlich-infantile Eitelkeit, wie sie sich nach erfolgreich absolvierten körperlichen Strapazen meist einzustellen pflegt. Wie bei Horst Eberhard Richter. Voller Stolz berichtete der „kleine, siebzigjährige Junge“ der taz (28.4.93), wie er im vergangenen Jahr den Kilimanjaro erklommen habe und wesentlich Jüngere schlappgemacht hätten.