■ Der Sinn ist hin
: Trotzdem feiern!

Daß der Maifeiertag seinen Sinn verliert in einer Gesellschaft, in der „arbeitsfrei“ mit dem Zwang zum Vergnügen identifiziert wird, liegt auf der Hand. In manchen Ländern ergibt sich, wenn der Tag mitten in die Woche fällt, auch noch die Möglichkeit einer „Brücke“ – vom Samstag bis zum 1. Mai oder vom 1. Mai bis zum folgenden Sonntag, also Zeit für einen Kurzurlaub oder eine Stippvisite bei Verwandten.

So weit ist es gekommen, und es ist schwer, noch einen Sinn in einen Tag hineinzubekommen, der doch immerhin mehr ein Jahrhundert lang Symbol der erfolgreichen Organisation der Arbeiter gedient hat, doch dessen einstiger Träger, das Proletariat, in den hochindustrialisierten Staaten zweifellos zu einer absterbenden Spezies gehört. Dabei wäre eine Besinnung weniger auf den Träger als vielmehr auf den Sinn jenes Tages heute dringender notwendig denn je.

Erkämpft nämlich wurde der 1. Mai keineswegs nur vom Proletariat, wenn auch die Massenstreiks und -aufmärsche seinerzeit den Schwung der Bewegung sinnlich machten: tatsächlich standen dahinter vor allem jene Leute, die sich bewußt auf die Seite des Proletariats gestellt hatten, bürgerliche Revolutionäre, Intellektuelle, auch Künstler und Wissenschaftler katholisch- sozialrebellischer Ausrichtung. Ihnen ging es darum, an diesem Tag des Jahres die klassenübergreifende Bedeutung sozialer Solidarität zu manifestieren, ihre Bereitschaft zum Kampf für Rechte anzuzeigen, die weniger ihnen selbst als anderen, den Arbeitern nämlich, zugute kamen.

Es ist nicht einzusehen, warum dieser Sinn des 1. Mai heute weniger aktuell sein sollte als seinerzeit, vor mehr als hundert Jahren: die Bekundung von Solidarität mit an den Rand gedrängten Menschen ist eine zeitübergreifende Aufgabe. Gerade dabei könnten nun auch die Arbeiter wieder aktiv werden: mit Demonstrationen des Schutzes für Immigranten, für Asylanten, für Minderheiten und Verfolgte, für Randgruppen im eigenen Land wie für die ausgebeuteten Staaten der Dritten und Vierten Welt, für die Opfer von Kriegen und Diktaturen. Das Spektrum derer, die Hilfe und Beistand brauchen, ist nicht kleiner geworden, sondern größer.

Natürlich würde das auch bedeuten, daß man den „Kurzurlaub“ und die Stippvisite sausenläßt; es könnte aber auch bedeuten, daß man die Fahrt ins Grüne umpolt in eine Fahrt zur Demo. Voraussetzung dafür ist freilich, daß wir es noch ehrlich meinen mit Solidarität und Hilfe für die anderen. Daran allerdings habe auch ich meine Zweifel. Umsonst sollten die Anstrengungen dafür aber doch nicht sein. Barbara Ciampi

Die Autorin ist Soziologin und hat bis Anfang April als Entwicklungshelferin in Ruanda gearbeitet