Adieu Gewerkschaften

Die französischen ArbeiterInnen bleiben den traditionellen Organisationen aus Angst vor Kündigungen und Skepsis gegen „die Linke“ fern  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Für ein paar Wochen im März sah es so aus, als hätten Frankreichs Gewerkschaften doch noch etwas zu sagen. Hunderttausende gingen gegen den von der konservativen Regierung eingeführten Niedriglohn für Jugendliche auf die Straße. Die traditionellen Arbeiterorganisationen waren überall mit von der Partie. Die Leute von der kommunistischen CGT, der sozialistischen CFDT und den vielen kleineren Gewerkschaften liefen in der Regel hinter den Demos her, überragten die übrigen TeilnehmerInnen um mindestens zwanzig Lebensjahre und zeichneten sich dadurch aus, daß sie als einzige über Fahnen, Lautsprecherwagen und Ordnungsdienste verfügten.

Dann kam der 28. März, der Rückzieher von Regierungschef Edouard Balladur und mit ihm die Ernüchterung für Frankreichs Gewerkschaften. Nach vierwöchigen Protesten strich Balladur den Niedriglohn für Jugendliche aus seinem Programm gegen die Arbeitslosigkeit. Bei der wenige Tage später stattfindenden nationalen Demonstration gegen die Arbeitslosigkeit, von der in Frankreich immerhin dreieinhalb Millionen Menschen betroffen sind, waren die alten GewerkschafterInnen wieder unter sich: Nur knapp tausend TeilnehmerInnen fanden den Weg unter ihre Transparente im Zentrum von Paris.

Von zwanzig Prozent im Jahr 1981, als François Mitterrand in den Präsidentenpalast einzog und die französischen SozialistInnen ihren historischen Wahlsieg errangen, ist der Organisationsgrad der französischen ArbeiterInnen heute auf knapp neun Prozent gesunken. Allein die größte Gewerkschaft, die CGT, hat in dem Zeitraum rund 1,6 Millionen Mitglieder verloren, die CFDT verlor 300.000 Leute.

An Konflikten auf dem Arbeitsmarkt herrscht dabei kein Mangel. Spätestens seit dem Herbst 1992 nehmen die Franzosen die Arbeitslosigkeit als Problem der ganzen Gesellschaft wahr. Seither diskutieren die Parteien – konservative wie linke – verstärkt über Arbeitszeitverkürzung und Lohnsenkungen. Dennoch beobachtet der Soziologe Alain Touraine eine „Apathie der französischen Gesellschaft“. Eine Erklärung für die Massenarbeitslosigkeit oder auch nur ein Nachdenken über politische und ökonomische Alternativen sucht er vergebens.

Weder die Gewerkschaften noch die Parteien der Linken haben von der Wirtschaftskrise profitiert. Die im vergangenen Jahr abgewählten SozialistInnen haben die Franzosen in beinahe einem Jahrzehnt an der Regierung gründlich ernüchtert. Die traditionellen Gewerkschaften, die je einer Partei nahestehen, gingen schon vorher in den Abgrund. Ideologen der sozialistischen Partei, wie der nationale Sekretär Henri Weber, fragen öffentlich: „Wird die Linke in der Lage sein, eine Alternative zu entwickeln?“

In kleineren Betrieben verheimlichen MitarbeiterInnen zunehmend ihre – von der Verfassung geschützte – Gewerkschaftszugehörigkeit aus Angst vor Entlassung. Wenn es zu Konflikten kommt, treten neuerdings spontan gebildete Komitees an die Stelle der alten Gewerkschaften.

Selbst bei Klassenkämpfen in Großbetrieben sind die Gewerkschaften ins Abseits geraten. Das jüngste Beispiel dafür ist „Air France“, dessen 40.000 MitarbeiterInnen Mitte April in einem „Referendum“ einem rigorosen Sanierungsplan der Unternehmensleitung zustimmten, in dem Arbeitszeitsverlängerungen ohne Lohnausgleich und der Abbau von 5.000 Arbeitsplätzen vorgesehen sind. Die 14 bei „Air France“ registrierten Gewerkschaften sahen dem „Referendum“ tatenlos zu. Auslöser für das im französischen Arbeitsrechts zwar nicht vorgesehene, aber immer öfter praktizierte „Referendum“ war das Scheitern der Gespräche zwischen Unternehmensleitung und Gewerkschaften bei „Air France“ gewesen.

Am 1. Mai gehen daher die meisten Gewerkschaften der öffentlichen Blamage füglich von vornherein aus dem Weg. Nur die Anarchosyndikalisten von der CNT und die kommunistische CGT rufen zu Demonstrationen auf, die übrigen Gewerkschaften machen allenfalls Saalveranstaltungen. Die Anarchos wollen sich morgens früh zum libertären Umzug treffen. Ein paar Stunden später demonstriert die CGT gegen Arbeitslosigkeit und sozialen Ausschluß. Im vergangenen Jahr brachte die CGT immerhin ein paar zehntausend Leute auf die Beine. Die meisten von ihnen – so erinnern sich TeilnehmerInnen – waren politisch aktive ImmigrantInnen, die auf die Befreiungskämpfe in ihrer Heimat hinwiesen.