■ Japans politische Krise scheint mit dem Regierungsantritt Hatas überwunden, die Identitätskrise aber nicht: Der neue weite Weg
Die erste Krise der neuen japanischen Regierung, die durch den Abtritt ihres populären Premierministers Morihiro Hosokawa ausgelöst wurde, ist vorerst überwunden. Die mit den politischen Wirren einhergehende Identitätskrise der japanischen Gesellschaft ist es freilich nicht.
Mit dem bisherigen Außenminister Tsutomu Hata, der Hosokawas Nachfolge antritt, kann die regierende Sieben-Parteien-Koalition noch einmal einen glaubwürdigen Reformer fürs höchste Amt aufbieten, der in Stil und Anschauung jenes Japan verkörpert, in das die Welt so große Erwartungen setzt. Offen und großzügig soll dieses Japan aus Sicht seiner Reformer sein, aber auch transparent und selbstbewußt – eine Weltmacht eben, die aufgrund ihres hohen materiellen Reichtums auch besondere Verantwortung übernimmt. Doch das ist leichter gesagt als getan.
Glückliche historische Umstände ermöglichten es Japan nach dem Krieg, den kollektiven Willen zum Wiederaufbau in eine neue demokratische Ordnung zu investieren. Fast unbemerkt flossen dabei die aus der konfuzianistischen Tradition überlieferten Werte, vom Kollektivgehorsam bis zur Treuepflicht, in eine schon nach westlichen Gesetzen verfaßte Gesellschaft ein. Nicht umsonst wirkt Japan auf den westlichen Besucher noch heute so überraschend vertraut und doch so eigentümlich fremd.
Was aber vierzig Jahre lang die Japaner zu höchster Effizienz und Leistung trieb, mußte eines Tages in die Identitätskrise führen. Nach dem Ende des Kalten Krieges und inmitten der ersten anhaltenden Wirtschaftsrezession stellen sich der Bevölkerung viele unbequeme Fragen: Gehören wir zum Westen oder zu Asien? Brauchen wir mehr Individualismus und Demokratie oder mehr Pflichtbewußtsein und Gehorsam? Sind die sozialen Werte des Konfuzianismus veraltet, oder müssen wir zu ihnen zurückfinden?
Das Kunststück der japanischen Reformer ist es dennoch, auf alle diese Fragen eine klare Antwort zu vermeiden. Die bisher regierende Nachkriegsgeneration sonnte sich in ihren Erfolgen und schmähte den Westen gern als dekadent. Die neue Politikergeneration betrachtet nun auch das eigene Land pragmatischer. Sie erkennt die Schwächen des Systems, wo es technologische Rückstände, ökologische Krisen oder einfach nur Ärger im Ausland bedingt. Aber sie sucht bisher nicht nach einer neuen, geschlossenen, politischen Ideologie.
Bleibt es bei diesem klugen Verzicht, könnte das historische Glück der Nachkriegszeit, nämlich die Synthese und das Nebeneinander östlicher und westlicher Werte und Traditionen, als neuer Fortschrittsbegriff ins politische Bewußtsein übergehen. Vor Tsutomu Hata liegt der weite Weg in eine neue kulturelle Souveränität, dem auch der Westen eines Tages folgen müßte. Georg Blume, Japan
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