Atombetreiber und Atomopfer

■ Trotz akuter Brandgefahr - die Ukraine betreibt die Reaktoren von Tschernobyl weiter / An den Folgen leidet vor allem die Bevölkerung in Weißrußland

Minsk/Berlin (taz) – Acht Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl will die Ukraine auf Strom aus dem Unglückskraftwerk nicht verzichten. Auf einer Konferenz der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien erklärte der stellvertretende ukrainische Ministerpräsident Waleri Schmarow, die Ukraine könne auf den Strom aus den beiden noch laufenden Reaktorblöcken in Tschernobyl nicht verzichten, Sicherheitsprobleme hin oder her. Selbst wenn fünf noch in Bau befindliche neue Atommeiler fertiggestellt würden, sei der billige Strom aus Tschernobyl wirtschaftlich unverzichtbar. Den Betonsarkophag für den Katastrophenreaktor will Schmarow notfalls mit eigenen Mittel sanieren, wenn es aus dem Westen kein Geld gebe.

Der Stromverbrauch ist in der Ukraine in den vergangenen drei Jahren um rund ein Viertel zurückgegangen, in Tschernobyl wurde 1993 nur etwa sieben Prozent des ukrainischen Stroms erzeugt. „Die Ukrainer haben gesagt, wir könnten sie gar nicht zwingen abzuschalten“, so IAEA-Sprecher David Kyd. Und weiter: „Wir kennen das Risiko, es ist akzeptabel.“

Greenpeace-Atomexpertin Inge Lindemann beschuldigte die Ukraine gestern, mit dem Risiko eines erneuten Super-GAUs zu spielen. Ein neuer vertraulicher Sicherheitsbericht von IAEA-Experten berichte von akuter Brandgefahr in den Reaktoren. Die Katastrophe von 1986 könne sich jederzeit wiederholen, eine Notabschaltung sei nicht gewährleistet.

Unterdessen beklagte der frühere weißrussische Parlamentspräsident Stanislaw Schuschkewitsch auf einer internationalen Strahlenopferkonferenz in Minsk die Ungleichverteilung der Folgelasten. Während Weißrußland, auf das seinerzeit fast drei Viertel des radioaktiven Fallouts niedergingen, in diesem Jahr für die Bekämpfung der Strahlenverseuchung ebensoviel ausgebe wie für Verteidigung, Wissenschaft, Bildung und Kultur zusammen, belaste die Katastrophe den Staatsetat der benachbarten Ukraine nur mit drei Prozent, den Rußlands sogar nur mit einem halben Prozent. Insbesondere Rußland, das hauptverantwortlich für den Unfall sei, will Schuschkewitsch stärker in die Pflicht nehmen. Der Politiker sprach am Donnerstag überraschend bei dem von der Minsker Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ veranstalteten internationalen Kongreß. Das frühere weißrussische Staatsoberhaupt mußte sich bei seinem Auftritt von den Teilnehmern unfreundliche Bemerkungen gefallen lassen, weil er in seiner Amtszeit den privaten Hilfsorganisationen, die den Löwenanteil der direkten Hilfe leisten, bürokratische Knüppel zwischen die Beine geworfen hatte. Immerhin befürwortet Schuschkewitsch jetzt eine neue umfassende Untersuchung der Tschernobyl- Folgen unter Einbeziehung unabhängiger Wissenschaftler. Eine entsprechende Studie der IAEA war 1991 zum Ziel weltweiter Kritik geworden, weil sie die Folgen unverantwortlich verharmlost hatte. Wachsweich antwortete er auf die Frage nach Atomkraftwerken für das bisher AKW-freie Land: Möglicherweise gebe es dazu keine Alternative, aber kein Politiker, der sich bei den Parlamentswahlen im kommenden Juni den Wählern stelle, werde diese Frage vorher mit einem klaren Ja beantworten. Auch er nicht.

In einem „Minsker Appell an die Welt“ forderten die etwa 400 Kongreßteilnehmer, die Hilfsanstrengungen insbesondere für die Kinder aus den verstrahlten Regionen zu intensivieren und sie im Ausland nicht zu vergessen. Die Verantwortlichen der IAEA und der zuständigen Regierungen sollten endlich die ganze Wahrheit über das Ausmaß der Katastrophe sagen und daraus die Konsequenzen ziehen.

Außerdem wird in dem Appell dazu aufgerufen, die Gründung einer internationalen „Ost-West- Stiftung für Frieden und Ökologie“ voranzutreiben. Gerd Rosenkranz/ten