Neue Fürsorglichkeit braucht das Land

■ Auch nach der Absegnung des Pflegeversicherungsgesetzes durch den Bundestag wird uns das Thema "Hilfe & Pflege" weiter beschäftigen / Mehr Markt ist prinzipiell gut, will aber verantwortlich gelernt..

Aufatmen in Bonn, endlich, die Feiertagsdebatte ist vorbei, das Pflegegesetz im Kasten und muß nach dem Bundestag nur noch nächsten Freitag im Bundesrat abgesegnet werden – aber: Die Diskussion zum Thema Pflege wird weitergehen. Denn unter den veränderten Rahmenbedingungen des neuen Gesetzes, das am 1. Januar 1995 in Kraft treten soll und ab 1. April Leistungen für ambulante Pflege gewähren soll, werden einige Grundsatzfragen deutlicher als bisher zutage treten. Sie betreffen die Verstärkung von Marktelementen, die widersprüchliche Aufwertung der Rolle von Familien in der Pflege und schließlich die grundsätzliche gesellschaftliche Unterbewertung von Fragen der Fürsorglichkeit und Pflege im Kontrast zum sozialstaatlich bestens abgesicherten Gesundheitsbereich.

1. Durch das Gesetz wird sich der Abbau einer oft kartellartigen Vorrangstellung der Wohlfahrtsverbände als Träger von Hilfe- und Pflegeeinrichtungen erheblich beschleunigen. Die neu zu bildenden Pflegekassen sind frei, mit Trägern aller Art Verträge abzuschließen, und privatwirtschaftliche Anbieter, die es billiger und besser machen wollen, können dabei die Gewinner sein. Mehr Markt also und mehr Möglichkeiten für die Pflegekassen, mit gleichem Geld mehr Leistung einzukaufen. All das bedeutet aber noch lange nicht, daß sich für Betroffene und ihre Angehörigen die Lage verbessert.

Auch wenn der Vergleich gewagt erscheint: Die Herausforderungen von Pflegemärkten ähneln im Prinzip den Marktherausforderungen in den postkommunistischen Ländern. Märkte können nicht per Erlaß herbeidekretiert, sie müssen erlernt und kultiviert werden. Und genau das stellt Betroffene, insbesondere aber auch öffentliche Politik vor neue Aufgaben. Sie betreffen z.B. Information und Beratung, Bedingungen und Kriterien öffentlicher Investitionszuschüsse oder qualitätssichernde Mindeststandards. Über entsprechende Aufgaben, Rechte und Pflichten der Kommunen und Länder zur „Zivilisierung“ der Hilfe- und Pflegemärkte konnte jedoch auch in langen Sitzungen keine Einigung erzielt werden, und so schweigt sich das Pflegeversicherungsgesetz in seiner letzten Fassung darüber weitgehend aus.

2. Die Frage nach dem zukünftigen Stellenwert von Hilfe und Fürsorglichkeit lenkt den Blick stärker als bisher auf die Familien, wo mehr als zwei Drittel aller Hilfe- und Pflegeleistungen (davon 80 Prozent durch Frauen) erbracht werden. Von Familie ist in den Begründungen zum Pflegeversicherungsgesetz auch viel die Rede gewesen, und die Tatsache, daß nur ein Drittel der Familien, die pflegen, von offiziellen Diensten Gebrauch macht, hat ja eine gewisse Anerkennung gefunden: Angehörige, die pflegen und deshalb nicht oder nur teilweise arbeiten können, sind in Zukunft sozialversichert. Außerdem kann man statt des Anrechts auf eine bestimmte Anzahl von Besuchen lizenzierter Pflege- und Hilfedienste („Sachleistung“) auch wahlweise eine Geldleistung erhalten, die dann als Entgelt für Leistungen in der Familie/ durch Bekannte und/oder zur Bezahlung von Hilfskräften benutzt werden kann.

Steuern und Sozialabgaben müssen in diesen Bereichen nicht gezahlt werden, und es ist deshalb einzusehen, daß die Geldleistungen bei der Pflegegeldalternative geringer ausfallen können als die Geldsätze, die das Gesetz bei der Inanspruchnahme professioneller Dienste vorsieht. Eine skandalöse Diskriminierung ist es jedoch, wenn nun das Pflegegeld in vielen Fällen nur noch weniger als die Hälfte der alternativen „Sachleistung“ beträgt, also 400 statt 750, 800 statt 1.800, 1.300 statt 2.800 Mark. Hier kann man dem DGB bei seiner angekündigten Verfassungsklage gegen die Pflegeversicherung nur Erfolg wünschen. – Hinter dem Streitpunkt von Kosten und Wert nichtprofessioneller Pflegearbeit verbirgt sich jedoch noch eine weitergehende strategische Frage: Stellen die monetäre Abgeltung und soziale Sicherung familiärer Leistungen, die das neue Gesetz vorsieht, nur ein Handgeld dar, das helfen soll, all die Verzichtsleistungen zu verschmerzen, die bislang mit solcher Hilfe und Pflege verbunden sind (also der weitgehende Verzicht auf Dimensionen eigenen Lebens, insbesondere bei Zwang zur Berufsaufgabe)? Oder können zukünftige sozialpolitische Schritte diese gesetzlichen Leistungen zu einem Einstieg in eine andere Logik werden lassen – die einer caring society, in der Hilfe und Pflege als kooperative Aufgaben definiert werden in einer Art von Arbeitsteilung, die gesellschaftliche Unterstützungsleistungen so gestaltet, daß die Wahrnehmung von Mitverantwortung in den Familien weniger belastend und konfliktbeladen ist?

Eine derartige, auch frauenpolitisch fortschrittliche Version der Aufwertung familiärer Pflege verlangt von der Politik allerdings mehr als Dienstleistungsdeputate und Pflegegelder. Es geht dann auch um entschiedene Beiträge zum Abbau der vielen Rücksichtslosigkeiten, wie sie in unserer Erwerbsgesellschaft – vor allem am Arbeitsmarkt – System haben.

3. Mit Blick auf andere Länder sticht für Deutschland vor allem der scharfe Kontrast und die bisher weitgehende Trennung zwischen dem hervorragend ausgestatteten Teilsystem der medizinischen Versorgung und dem auch nach der jetzigen Reform immer noch vergleichsweise mageren Teilsystem „Hilfe & Pflege“ ins Auge. Dadurch, daß nun die Pflegekassen unter dem Dach der Krankenversicherung eingerichtet werden, verringert sich diese institutionelle Spaltung zwar. Dennoch verteidigen gerade „sozial engagierte“ Politiker im Namen des „Sozialstaatsprinzips“ in der Rubrik Krankenversorgung noch die Vergütung verschiedenster Bagatellrisiken durch die Krankenkassen und billigen gleichzeitig mit Hinweis auf die „Grenzen des Sozialstaats“ in der Rubrik Pflege diesen Kompromiß. Der aber wird die vorgesehenen Pflegekassenbeiträge so gering ausfallen lassen, daß auch in Zukunft den meisten HeimbewohnerInnen beim Großrisiko Pflegebedürftigkeit die Sozialhilfeabhängigkeit nicht erspart bleiben wird.

Bisher war die Reproduktion einer Kultur der Hilfe und Fürsorglichkeit Privatsache. Cure genießt strikten Vorrang vor Care. Das muß sich ändern. Adalbert Evers

Professor für Vergleichende Gesundheits- und Sozialpolitik an der Universität Gießen