piwik no script img

■ Nebensachen aus BukarestDie allgemeine Krise des Briefumschlags

Das kleine Postamt am Boulevard der Freiheit drängte sich zu keiner Zeit mit irgendwelchen Anzeigetafeln oder sonstigen Hinweisschildern in den Vordergrund. Doch kennen es alle. Es ist kein flüchtiger Ort. Hier trifft sich die Nachbarschaft, schwatzt, lädt ihre Sorgen ab, und jeder hat hier schon ein Zipfelchen Lebenszeit verbracht.

Allerlei Leute arbeiten emsig im kleinen Postamt, tragen volle Bierkästen hinein und leere hinaus. Limousinen und Lastwagen fahren vor, hinter Türen verschwinden haufenweise Kartons, ständig tauchen neue Gesichter auf. Es ist zwar unklar, was für Geschäfte hier gemacht werden, aber sie blühen. Und so langweilt sich außer der Dame am Kundenschalter keiner der Angestellten.

Die Putzfrau bindet an manchen Tagen Lumpen auf ein Stöckchen und entstaubt damit die Lampenschirme. Anderntags pendelt sie mit einer Plastewasserflasche zwischen Klosett und den abgemagerten Grünpflanzen hin und her. Einmal trug sie die Dose mit der Klebe vom Kundentisch fort, da sie leer war. Kurz darauf bat ein Mann die Schalterdame um Klebe, um Briefmarken aufkleben zu können. Jene hielt nach der Dose Ausschau und seufzte: „Alle stehlen heutzutage.“ Die Leute in der Schlange pflichteten ihr bei, und es brach ein Tumult über den Verfall der Sitten aus.

Es sind schon einige Jahre seit der Revolution vergangen, und so hat auch der Direktor des kleinen Postamtes gewisse neue Moden eingeführt. Das Angebot wurde erweitert, und es sieht jetzt aus wie auf einem Gemischtwarenstand in der Metro. Es gibt Liebesromane, Schokoriegel und einen Videofilmverleih. Nur nach Briefumschlägen fragen die Kunden noch vergeblich. Das liegt aber nicht am kleinen Postamt, sondern an der allgemeinen Krise der Briefumschläge.

Einmal hinkte eine Alte direkt an den Schalter, ohne anzustehen. Hinter ihr harrten Leute in einer beachtlichen Schlange aus. Die Alte wollte nur fragen, ob ihr Brief, den sie schon mit Marken versehen hat, noch genausoviel kostet wie gestern. Da heulten aber die Leute in der Schlange wütend auf. Alle hätten schließlich etwas zu fragen! „Ist alles wie früher“, fauchte ein Herr. Die Alte schlich demütig davon.

„Wird alles immer teurer“, schrie der Herr weiter. „Für die Zeitung hab' ich heute schon hundertfünfzig bezahlt. Das haben wir nun vom Präsidenten und seiner Reform!“ – „Ach! Du hast doch für ihn gestimmt“, rief der Mann neben ihm, „ich seh's dir doch an!“ Der Herr schwieg beleidigt. Doch die Leute aus der Schlange standen ihm bei. „Recht hat er, alles wird teurer, nur warten solln wir wie früher! Überhaupt, wieso arbeitet hier immer nur eine?!“

Das war das Stichwort. Flüche und Verwünschungen prasselten auf die zierliche Schalterdame nieder. „In den H.... deiner Mutter sollst du..., elende Faulenzerin!“ Die Tochter der Angestellten, die in der Ecke Hausaufgaben machte, horchte auf. „Was soll ich denn machen“, verteidigte sich die Dame mit schwacher Stimme, „meine Kolleginnen müssen dem Direktor im Büro helfen!“ – „Ja, ja, beim Kaffeetrinken“, höhnte es zurück.

Da kam ein junger Mann herein und ging geradewegs an den Leuten vorbei zum Schalter. „Nur eine kleine Briefmarke, bitteschön“, flehte er. Das war der Gipfel der Ungeheuerlichkeit! Wutschreiend stürzten die Leute auf den Mann und stießen ihn in die Seite. „Sehen Sie nicht“, riefen sie, „daß wir alle warten! Die Ärmste am Schalter ist ja den ganzen Tag allein und völlig überarbeitet! Da muß man sich eben gedulden!“ Der junge Mann lief fluchend davon. Die Leute murmelten, nickten einander beifällig zu.

Es herrschte wieder Ruhe im Postamt, und alle starrten gespannt auf die Dame am Schalter. Keno Verseck

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen