100 Jahre Versuchskaninchen

Heute diskutiert der Bundestagsausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über eine Novelle des Atomgesetzes  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Nur eine Anhörung von fünf Experten ist es, zu der der Bundestagsausschuß für Umwelt und Reaktorsicherheit am heutigen Montag geladen hat. Die geplante Änderung des Atomgesetzes, die unter anderem die direkte Endlagerung von abgebrannten Brennelementen ermöglichen soll, kommentieren so unterschiedliche Wissenschaftler wie der AKW- Freund Professor Adolf Birkhofer oder Lothar Hahn vom Öko-Institut in Darmstadt. Daß von dieser Runde die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, hat Protest ausgelöst etwa bei den Oberpfälzer Bürgerinitiativen gegen Atomanlagen oder beim Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz, der von der Gesetzesnovelle „schwerwiegende Änderungen zu Lasten der Sicherheit und zugunsten der Atomlobby“ befürchtet.

Zuvor allerdings hatte bereits der energiepolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Seesing, das Interesse an der Anhörung geweckt. Seesing will die Zwischenlager zum Entsorgungsnachweis für die bundesdeutschen AKWs erheben. Ausgangspunkt seiner Idee ist zunächst bloß ein technisches Faktum. Die direkte Endlagerung von abgebrannten Brennelementen ist nur nach ein langen Abklingzeit des hochradioaktiven Mülls möglich. Runde vierzig Jahre müssen die Brennstäbe in den Abklingbecken bei den AKWs oder, wie geplant, in den Lagerhallen in Gorleben oder Ahaus aufbewahrt werden. Erst danach kann man sie in ein (bisher nicht existierendes) Endlager verfrachten.

Diese technisch notwendige Abklingzeit will Seesing nun als eine „Vorstufe der Entsorgung“ des hochradioaktiven Mülls gelten lassen. Wäre sie gesetzlich festgeschrieben, könnte nach Meinung von Seesing etwa das AKW Mülheim-Kärlich ans Netz gehen, dessen Betrieb Rheinland-Pfalz mangels Entsorgungsnachweis bisher nicht erlauben will.

Rein juristisch gesehen wäre es im Zuge der anstehenden Atomgesetzesnovelle recht einfach, die Zwischenlagerung zum „Entsorgungsvorsorgenachweis“ aufzumöbeln. Vor Gerichten sind bislang die nur von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen „Entsorgungsvorsorgerichtlinien“ maßgeblich, eine detaillierte gesetzliche Regelung existiert nicht. Seesing will denn auch nur in die Begründung der jetzigen Atomgesetzesnovelle einen entsprechenden Passus aufgenommen sehen. Schon dies binde die Rechtsprechung hinreichend. Seesings Vorschlag: Auf hundert Jahre solle in diesem Text die Zwischenlagerung in Gorleben, Ahaus oder demnächst auch in Greifswald begrenzt, das heißt erlaubt sein.

Inzwischen möchte der Christdemokrat diese Zahl relativieren. „Es können auch sechzig oder achtzig Jahre sein“, sagt er. In jedem Falle seien bei direkter Endlagerung vierzig Jahre Abklingzeit ohnehin notwendig, die maximale Lagerzeit müsse entsprechend höher liegen.

Gegen Seesings Vorstoß hat sich eine Front wahrlich ungewöhnlicher Zusammensetzung formiert. Die drei Bürgerinitiativen an den Standorten Ahaus, Gorleben und Greifswald wollen nicht „das Versuchskaninchen der Atomindustrie sein“; sie erklärten gemeinsam, daß „sie das Experiment oberirdische Dauerlagerung nicht hinnehmen werden“. Die niedersächsische Umweltministerin Monika Griefahn versichert, daß die SPD sich dagegen aussprechen werde. Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) schließlich lehnte Seesings Vorstoß mit dem Hinweis ab, schon jetzt spiele die Zwischenlagerung beim Entsorgungsnachweis eine erhebliche Rolle. Fortschritte bei der Suche nach einem Endlager seinen trotzdem notwendig.

Das Endlagerprojekt Gorleben, das Töpfer in den Energiekonsensgesprächen bereits zur Disposition gestellt hatte, will er zum jetzigen Zeitpunkt nicht aufgeben. Die geplante Zulassung direkter Endlagerung wird die Bedeutung der Zwischenlagerung in jedem Falle erhöhen. Das bundesdeutsche Konzept einer langfristigen Aufbewahrung abgebrannter Brennelemente in großen, fünf oder sechs Meter langen Castor-Behältern ist weltweit einmalig. Praktische Erfahrungen mit der Trockenlagerung von hochradioaktivem Müll über Jahrzehnte gibt es nicht. Auch die Zwischenlagerung in Castor-Behältern ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang.

Die Genehmigungen für die bisherigen Castor-Lager begrenzen die Lagerzeit der abgebrannten Brennelemente auf maximal vierzig Jahre. In dieser Zeit müssen die Behälter gasdicht bleiben – gekühlt werden sie durch von außen zuströmende Luft. Die hannoversche Gruppe Ökologie hat sich im Auftrage von Greenpeace im vergangenen Jahr eingehend mit den Behältern befaßt und hat erhebliche Zweifel, daß die Dichtungen auch nur die vierzig Jahre durchhalten. Durch die permanente Neutronenstrahlung und die Feuchtigkeit im Innern werde die Wirkung der Metalldichtungen nachlassen, sagt etwa der Physiker Wolfgang Neumann. Außerdem bestehe die Gefahr, daß die heißen Hüllrohre der Brennelemente zerstört werden. Dadurch würde sich hochradioaktives Material am Behälterboden sammeln. Schließlich sei unklar, ob der in die Behälterwände eingebaute Kunststoff, der die Neutronenstrahlung absorbieren soll, die erforderlichen 40 Jahre durchhalte.

Die Pläne der Atomindustrie gehen allerdings schon wieder weiter. Siemens ist dabei, unter dem Namen „FUELSTOR“ ein Zwischenlagerkonzept für 100 Jahre zu entwickeln. Dafür müßten allerdings die Genehmigungsverfahren für Gorleben und Ahaus völlig neu aufgerollt werden. Alle Sicherheitsnachweise und Gutachten gehen bisher von einer maximalen Lagerzeit von 40 Jahren aus. Ein Offenbarungseid: In allen Gerichtsverfahren hat die Betreiberseite den Vorwurf, die Zwischenlagerung sei in Wahrheit auf Dauer geplant, vehement zurückgewiesen.