Sinneswandel in Moskau

■ Rußlands Regierung widersetzt sich härteren UNO-Nato-Linie nicht länger

„Moskau macht einen Fehler, wenn es von gemeinsamen Aktionen mit dem Westen in Bosnien abweicht“, schrieb Rußlands renommierteste Tageszeitung Iswestija in ihrer Wochenendausgabe. Zum ersten Mal wurde damit an prominenter Stelle über die Rolle Rußlands im Balkankrieg nachgedacht. Den Vermittlungserfolg der russischen Diplomatie um Sarajevo sieht der Kommentator nun in einem ganz anderen Licht, als ihn die Öffentlichkeit bisher feierte: Die Intervention Moskaus habe nur den bosnischen Serben Auftrieb gegeben. Ihnen sei es gelungen, die Russen in eine Gegnerschaft zum Westen zu manövrieren. Mit dem Wissen, daß Moskau ein Bombardement der serbischen Stellungen nicht zulassen werde, hätten die Serben den Angriff auf Goražde gestartet. Sie wollten sich und ihren Gegnern beweisen, daß keiner sie aufhalten könne.

Rußlands Sonderbeauftragter Tschurkin und Außenminister Kosyrew haben gehofft, so die Iswestija, Milosević gegen Karadžić und beide gegen den bosnischen Serben-General Mladić ausspielen zu können. Rausgekommen ist das Gegenteil. Die serbischen Führer haben Moskau ausgenutzt. Wohl kaum ist anzunehmen, so Istwestija, daß die russische Diplomatie so naiv ist zu glauben, zwischen der politischen und militärischen Führung in Serbien bestünden tatsächlich ernsthafte Differenzen.

Die russische Diplomatie steht ziemlich dumm da. Ihre Rückkehr an den Verhandlungstisch als zweite Supermacht endet damit, daß sie sich von Serbien hat zur Geisel machen lassen. Die innenpolitischen Befürworter eines Schulterschlusses mit Belgrad werden die neuen Winkelzüge Moskaus nicht anerkennen. Zumal sich gerade eine Delegation der Staatsduma in Serbien aufhält, von deren Besuch keine wesentlichen Kurskorrekturen zu erwarten sind. Ihr Anliegen ist ideologischer Natur: Sie müssen über Rußland als „Supermacht“ reden, weil ihnen die Fähigkeit abgeht, Rußland zu einem gewöhnlichen Staatswesen zu transformieren. Die vorsichtigen Versuche des Kremls, in der Sitzung des UNO-Sicherheitsrates die ursprünglichen Einwände gegen das Nato-Ultimatum zurückzunehmen, offenbaren den Eiertanz der Diplomatie. Sie beschränkt sich nicht auf das Wesentliche, sondern sucht verzweifelt Wege, um sich trotz grundsätzlicher Billigung des Nato-Vorgehens nach innen noch eine Hintertür offenzuhalten. Die wortreichen Stellungnahmen des russischen UNO-Vertreters Julij Woronzows nach der Sitzung des Sicherheitsrates mögen das belegen: „Wir haben noch einige Fragen hinsichtlich des zweiten Teils der Nato-Entschließung, die über das Gebiet Goražde hinausgehen und sich auf andere gefährdete Gebiete erstrecken... Meines Erachtens bestehen Widersprüche zwischen dem, was der Generalsekretär der UNO erbeten hat, und dem zweiten Teil der Antwort der Nato...“ Rußland wünsche dazu noch eine Erklärung, so Woronzow. Kosyrew nannte das Ultimatum eine „angemessene Reaktion“, die in enger Abstimmung mit den UN-Truppen erfolgen müßte. Ihm geht es darum, Rußland als gleichberechtigten Partner am Verhandlungstisch zu halten. Woronzow fügte hinzu: „Wir wollen die menschliche Tragödie in Goražde beenden. Wenn uns das mit politischen Mitteln nicht gelingt, müssen wir das mit anderen Mitteln erreichen.“ Klaus-Helge Donath, Moskau