Erneute Umarmung der UNO scheint eiskalt kalkuliert

■ Trotz ihres Rückzugs aus der größtenteils eroberten Enklave hat sich für die bosnischen Serben mit dem „Sieg“ in Goražde ein Teil ihrer weitgesteckten Pläne erfüllt

Kurz bevor der Rückzug eingeleitet wurde, schoß die Artillerie noch einmal aus allen Rohren auf die schon zerstörte Stadt Goražde. Vielleicht wollten die Männer der serbisch nationalistischen Armee damit ihre Wut zum Ausdruck bringen, die sie nach dem Befehl Radovan Karadžićs, sich angesichts des Nato-Ultimatums doch noch aus der fast schon eroberten Stadt zurückzuziehen, empfunden haben mögen. Immerhin konnten sie sich mit den Siegesmeldungen aus der „Hauptstadt“ der serbisch besetzten Zone Bosniens, Pale, trösten. Den serbischen Streitkräften sei es trotz des Rückzugs gelungen, „die frechen Angriffe der muslimischen Seite abzuwehren“, triumphierte Radio Pale.

Insgesamt betrachtet müßten die serbischen Soldaten mit dem Ergebnis ihres Feldzuges aber ganz zufrieden sein. Denn immerhin ist es ihnen gelungen, den größten Teil der Enklave Goražde zu erobern, auszurauben und die Bevölkerung aus ihren Dörfern zu vertreiben. Von seiten der UNO und der Nato ist ja lediglich der Rückzug der Truppen um drei Kilometer und der der Artillerie um 20km vorgeschrieben worden. Von einem Rückzug der serbischen Truppen auf die Ausgangspositionen zur Zeit vor dem Angriff – der schon vor rund drei Wochen begonnen hat – ist dabei nicht einmal die Rede.

Und so hat sich schon jetzt zum Teil erfüllt, was die militärischen Planer der serbischen Nationalisten sich vorgenommen hatten. Gemäß der Ziele, die ihr Oberkommandierender, General Ratko Mladić, schon im vorigen Jahr zu erkennen gab, ist mit der Eroberung Goraždes zwar ein wichtiges, jedoch noch nicht das letzte dieser Ziele erreicht. Ostbosnien befindet sich zwar schon jetzt völlig in der Hand der serbischen Angreifer; auch ist die ethnische Säuberung mit Konsequenz durchgeführt und die Grenze der serbischen Herrschaft über die Drina schon weit nach Westen vorgeschoben. Doch noch müßte, um die damaligen Vorstellungen einzulösen, in der Herzegowina das Gebiet bis zur Linie Konjić, Ost-Mostar und Čapljina erobert werden. Denn der Fluß Neretva soll die künftige Grenze zu den Kroaten sein. Und in Ostbosnien soll der Korridor um Brčko nach wie vor erweitert werden – was Angriffe auf die Region Tuzla und die von der kroatischen Armee gehaltene Region um Orasje möglich erscheinen läßt.

Daß in Zagreb kürzlich die für die Verteidiger von Orasje bestimmte Munition in die Luft geflogen ist, könnte dafür ein Zeichen sein, denn Sabotage wird von kroatischer Seite nicht mehr ausgeschlossen. Auch die Eroberung der Enklave um Maglaj steht nach wie vor auf dem Programm. Um die Eroberung Dobojs abzusichern, erscheint dieser Angriff in der Logik der serbischen Militärs als eine Notwendigkeit. Mit den Angriffen auf das westbosnische Bihać wird zudem bedeutet, daß das Ziel, die Eisenbahnlinie von Knin nach Banja Luka und den Flughafen von Bihać vollständig in serbische Hand zu bekommen, keineswegs aufgegeben ist.

Der politische Führer der serbischen Nationalisten, Radovan Karadžić, kann angesichts des „Sieges“ von Goražde jetzt erst einmal aufatmen. Daß eine Drohgebärde der Nato kommen würde, hatte er vorausgesehen, und die erneute Umarmungstaktik gegenüber der UNO scheint eiskalt kalkuliert. Denn er mußte sich tatsächlich um seine Position schon Sorgen machen. Obwohl er sich auf dem internationalen Parkett mehrmals als geschickter Taktierer erwiesen hatte, begann es nach dem Ultimatum von Sarajevo Ende Februar in den eigenen Reihen bedenklich zu kriseln. Nicht nur, daß manche Offiziere in der Armee ihn des Zurückweichens ziehen. Viel mehr irritieren mußte ihn, daß die serbischen Konsultativräte in Restbosnien seine Politik einer scharfen Kritik unterzogen und für das friedliche Zusammenleben aller Nationen in Bosnien eintraten.

Angesichts der Tatsache, daß viele Serben aus seinem Herrschaftsbereich nach Serbien oder ins Ausland geflohen sind, mußte ihm klar geworden sein, daß sich die Stimmung in ganzen Landesteilen gegen ihn zu wenden begann. So hat erst am Montag letzter Woche die serbische Bevölkerung in dem Gebiet von Ozran eine „Unabhängige Autonome Serbische Republik Ozran“ ausgerufen, die sogleich darum bat, als Kanton in die bosnisch-kroatische Föderation aufgenommen zu werden. Jetzt aber, angesichts des „Erfolges“ um Goražde, wird Karadžić das Grummeln bei den Serben überdecken können.

Denn seine Stellung scheint ja erneut von internationaler Seite gestärkt zu werden. So braucht er keineswegs zu befürchten, daß er von den Verhandlern und den Politikern der Welt als Paria behandelt würde. Es wird nämlich eisern daran festgehalten, auch bei den geplanten großen Bosnienkonferenzen nur die Nationalisten, nicht aber deren Kritiker einzuladen. Eine diesbezügliche Aufforderung des Parlamentes der Kroaten Bosniens, das im Februar in Sarajevo tagte, wurde zum Beispiel schlichtweg ignoriert. Und so wird Karadžić versuchen können, in bezug auf Goražde durchzusetzen, was ihm in Srebrenica und Zepa schon gelungen ist: die Entwaffnung der Verteidiger Goraždes mit internationaler Hilfe durchzuführen. Erich Rathfelder, Split