Freispruch für Shakespeare

■ Wir bauen uns einen Autor, der auch Ovid hätte übersetzen können: Walter Klier dekonstruiert die Mythen der Shakespeare-Forschung und konstruiert einige neue Rätsel für die Literaturwissenschaft

Gelänge einem eifrigen Literaturdetektiv eines Tages der unwiderlegbare Nachweis, hinter dem nach Homer größten Monument der Literaturgeschichte verstecke sich nicht jener Händler aus dem englischen Stratford-on-Avon, von dem man annimmt, er sei es gewesen, die Folgen wären verheerend und in etwa mit der Enthüllung zu vergleichen, Robin Hood sei in Wirklichkeit ein Kinderschänder gewesen. Eine millionenschwere Industrie bräche zusammen, und ganz nebenbei stünde eine Hundertschaft von Wissenschaftlern plötzlich vor versiegenden Pfründen. Daß in periodischen Abständen die Frage nach der historischen Person „Shakespeare“ gestellt wird, hat gute Gründe, es kann in der Tat wohl kaum jenes unbeschriebene Blatt aus der englischen Provinz gewesen sein, das inzwischen Gewohnheitsrecht genießt. Auf der anderen Seite fehlen aber jegliche Anhaltspunkte dafür, wer es tatsächlich gewesen sein könnte. „Shakespeare“ – das sind in Wahrheit die Sonette und die Theatertexte; was die Person dahinter angeht, so wurden schon Platzhalter wie der Philosoph und Staatsmann Francis Bacon angeboten, oder es wurde die These von der inhomogenen Autorenschaft vertreten. Derzufolge saß Shakespeare als elisabethanischer Proust wie eine Spinne im Netz, ließ sich Lexika, Fachliteratur und italienische Renaissancenovellen herbeischaffen, ganz zu schweigen davon, daß er wie ein Stratford-Spielberg ganze Stückpassagen bei Ko-Autoren in Auftrag gegeben haben soll. Wie immer die Geschichten um die historische Person „Shakespeare“ gesponnen werden, sie belegen nur eines: Je weniger die Forschung weiß, um so wilder spekuliert sie und um so enthemmter frönt sie einem Biographismus, der zwanghaft Bezüge zwischen Theatertexten und der hypothetischen Biographie des Autors herstellt, um doch nur den Horror vacui zu kaschieren, der die Forscher angesichts des schwarzen Lochs „Shakespeare“ befällt.

Anders Walter Klier, Mitherausgeber der Zeitschrift Gegenwart, dessen jüngster Versuch der Spurensuche für vehemente Reaktionen sorgte und gar Spiegel-Herausgeber Augstein in seinem eigenen Blatt auf den Plan rief. Eine Aufregung, die auf den ersten Blick nicht zu verstehen ist, da Klier in seinem „Shakespeare- Komplott“ lediglich unaufgeregt alle Ungereimtheiten in der etablierten Forschung auflistet, die entgegen aller Logik einen Tausendsassa aus Stratford-on-Avon zurechtzimmert, der gleichzeitig Händler gewesen sei, zielstrebig ein kleines Unternehmen ausgebaut habe, dann als Schauspieler nach London gegangen sei, um gleichzeitig Tragödien und Komödien zu schreiben und als Theaterdirektor zu reüssieren. Da kann vieles nicht stimmen, für Unbehagen sorgt vor allem, daß der zu seiner Zeit recht bekannte Autor in seiner Heimatgemeinde keinerlei Wertschätzung genoß.

So weit, so gut. Solange Walter Klier ein Dekonstrukteur von Shakespeare- Mythen bleibt, ist sein Buch lesenswert. Leider aber konnte auch er sich nicht dem Sog des Shakespeare- Loches entziehen und wartet schließlich mit einem eigenen Platzhalter auf, der zwar auch schon einige Zeit im Gespräch ist, aber selten so ernsthaft in die Diskussion geworfen wurde: Edward de Vere heißt er, war der 17. Graf von Oxford und einer der einflußreichsten Höflinge am elisabethanischen Königshaus im ausgehenden 16. Jahrhundert. Ein nicht aussichtsloser Kandidat, aber hat er tatsächlich mehr zu bieten als jenes Gespenst aus Stratford, das sechs zittrige Unterschriften hinterlassen haben soll, hinter denen Graphologen einen des Schreibens Unkundigen vermuten? Bei genauem Hinsehen nicht, und weil das so ist, ist auch Klier nicht ganz frei davon, biographische Details zum Beleg für seine These zu phantasieren. Oder was soll man davon halten, daß er die profunden Ovid-Kenntnisse Shakespeares damit erklärt, ein Onkel und Hauslehrer des jungen de Vere sei der englische Ovid-Übersetzer seiner Zeit gewesen? Eine Parallele, durch die sich Klier gar zur kühnen Annahme veranlaßt sieht, der damals recht aufgeweckte Knabe de Vere (sprich Shakespeare) habe selbst große Teile der Ovid-Übersetzung besorgt. Und kann man tatsächlich darüber hinwegsehen, wie Klier in bester Stratford-Manier Ungereimtheiten seiner eigenen Argumentation überspielt? Einige von Shakespeares Stücken zum Beispiel sind nach dem Tode de Veres erschienen, was Klier damit erklärt, der einflußreiche Höfling und Abenteurer habe sich bedeckt halten müssen, da Geldverdienen unter Adligen verpönt war. Mußte der arme Dramatiker also tatsächlich auf Halde produzieren, gerade weil er ein vermögender Adliger war? Klier behauptet andererseits, de Vere habe sich den ehrenwerten Stratforder Händler eben darum als Strohmann zulegt, damit er unter dessen Namen seine Stücke veröffentlichen konnte.

Zur Unterfütterung seiner These meint Klier denn auch, in Skakespeares Stücken kämen die niedrigen Stände immer schlecht weg, was ganz eindeutig für einen adligen Autor und dessen Weltsicht spreche. Leider sprechen Shakespeares Texte eine andere Sprache, es sind alle Nuancen vom Maulhelden bis zum feinsinnigen Wortspieler sowohl bei Adligen als auch bei pfiffigen Vertretern der unteren Stände zu finden, so daß am Ende der jüngsten Attacke gegen die etablierte Shakespeare- Forschung eine weitere vor Gericht nicht verwertbare Indizienkette steht: Freispruch für Shakespeare, lautet das Urteil, der vermeintliche „Landlümmel aus dem Drecknest Stratford“ (Alfred Kerr) darf weiterhin eines der größten Rätsel der Weltliteratur bleiben. Uns allerdings bleibt bis zur nächsten Shakespeare-Runde die Hoffnung auf ein unterhaltsames Intermezzo, vielleicht unter dem Titel „Das Büchner-Komplott“. Oder kann es tatsächlich angehen, daß ein gerade mal 22jähriger und wohlbehüteter Doktorssohn in „Dantons Tod“ über alle Nuancen von Fanatismus und Wahnsinn, Herrschaftsstrategien und Volksverhetzung, naiver und berechnender Liebe geschrieben hat, während er gleichzeitig einen Staatsumsturz plante und seine Karriere als Wissenschaftler vorantrieb? Jürgen Berger

Walter Klier: „Das Shakespeare- Komplott“. Steidl Verlag, Reihe Essay. Herausgegeben von Kurt Scheel. 207 Seiten, 20 DM

Ein Vorabdruck aus diesem Buch erschien in der taz vom 30. November 1993.