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Vorschlag

■ „Abreibung für Özgüls“ – Kinderstück im Fliegenden Theater

Aus dem kleinen türkischen Gemüseladen schlagen Rauchwolken. Holzkisten und Vorhänge brennen gut. Aus der Ferne nähert sich das Sirenengeheul herbeieilender Feuerwehrwagen. Und aus den Fenstern oberhalb des Ladens der Özgüls geben die deutschen Bewohner des Hauses ihre despektierlichen Kommentare ab. „Das mußte ja mal so weit kommen bei die Türken“, schimpft ein alter Mann, „immer nur Ärger!“ Ein Reporter vom Sensationsfunk Berlin (kurz: Sfb) ist ebenfalls am Schauplatz eingetroffen. Er interviewt die Fenstergaffer, die sich ganz schnell auf neue Sündenböcke einschießen: „Die Kinder warns. Denen jehts doch heute viel zu jut. Früher war det allet mal besser.“ „Sind Kinder schlimm?“ fragt der Reporter die 4- bis 6jährigen Kids im Zuschauerraum. Und die protestieren zunächst einmal heftig. An einer großen Uhr dreht der Reporter die Zeit um einige Stunden zurück. In einer Rückblende führt er vor, wie es zu dem Brand in Özgüls Laden kam.

„Abreibung für Özgüls“ von Anka Sander und Rudolf Schmid für Kinder im Grundschulalter ist fern der altersüblichen Märchenmusicals, Rumpelstilzchens und Kranke-Tier-Geschichten. Mit Didaktik und Witz führt das Puppenspiel in der Regie von Carolin Oberlaner anhand eines Fallbeispiels vor, wie es zu Gewalt von und unter Kindern kommen kann. Sicher, der erwachsene Zuschauer wird hier keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Daß es bei Rocky und seinen beiden Freunden – den drei Brandbombenübeltätern – zu Hause ganz finster zugeht, versteht sich fast von selbst. Als Voyeur blickt man in die Fenster der türkischen und deutschen Familien, und erlebt hier die traditionelle türkische Großfamilie und dort die deutsche Fernseh-Bier-Familie. Hier finden sich die Wurzeln für das noch glimpflich verlaufene „Attentat“, für einen Frust, der selbst bei Kindern ausländerfeindliche Gefühle und Gewalt erzeugen kann.

So allgemein die Ursachenforschung auch betrieben wird, so sehr hebt sie sich doch auch von den üblichen Schwarz-weiß-gut- und-böse-Schemata ab. Wenn der Reporter sein junges Publikum befragt, was denn jetzt mit Rocky und Co. passieren soll, und es Antworten von „Gefängnis“ bis „Heim“ hagelt, führt das Stück eine versöhnlichere Alternative vor. Denn zumindest Rocky hat etwas gelernt: Er freundet sich mit der Tochter der Özgüls an – was ihn die ohnehin sehr fragwürdige Freundschaft der beiden anderen kostet – und arbeitet im Gemüseladen seine Strafe ab. Anja Poschen

Nächste Vorstellungen heute, 10 Uhr und 15 Uhr, morgen, 10 Uhr, weitere Termine bis Juni, zu erfragen unter Tel.: 692 21 00, Fliegendes Theater, Körtestraße 17, Kreuzberg.

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