Das kühle Chaos

■ Ausdruckslos: Sol LeWitts „Structures“ im Neuen Museum Weserburg/Bremen

Edward Muybridge war ein praktisch denkender, vor allem aber skrupulöser Mann. Seine Bewegungsstudie eines galoppierenden Pferdes war bereits zu seiner Zeit – in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts – Legende. Um aber mit wirklich letzter Genauigkeit klären zu können, nach welchem System nun sich Tiere und Menschen fortbewegen, ließ Muybridge nicht ab. 781 Lichtdrucke umfaßt sein erstes publiziertes Kompendium „Animal Locomotion“; weitere 30.000 Phasenfotos folgten. Allein aus Prinzip. Als Künstler verstand sich Muybridge, später zu einem „Pionier“ seines Mediums stilisiert, zu keiner Zeit. Und für Zeitgenossen wie den Naturalisten P.H. Emerson gab es „nichts Unkünstlerisches als gewisse Haltungen eines galoppierenden Pferdes, wie man sie mit dem Auge niemals sieht“.

Wer also war besser geeignet als Muybridge, als es für die Konzeptkünstler der 60er Jahre darum ging, sich ein Leitbild außerhalb der Kunstgeschichte zu suchen? „Muybridge II“ steht am Anfang der Konzeptkunst von Sol LeWitt. Eine rechteckige Kiste, brusthoch an der Wand angebracht und mit zehn Gucklöchern versehen: aus denen starren Ausschnitte eines Aktfotos dem Betrachter entgegen. Mit der schrittweisen Vergrößerung verschwindet der Körper; die anfangs sehr genaue Beschreibung weicht zu einem diffusen Bild der Nabelzone auf. Von hier aus entwickeln sich praktisch alle folgenden Strukturen – und eben nicht Skulpturen – LeWitts. Das Prinzip bleibt dasselbe: eine fanatische Lust an Ordnungsprinzipien, deren mechanistischer, betont kunstloser Reihencharakter alle Vernunft zuletzt dem Wahnsinn überantwortet.

Diese These illustriert die erste europäische Retrospektive von LeWitts Strukturen, die derzeit in Bremen Station macht. Die Organisatoren vom Neuen Museum Weserburg haben „Muybridge II“ an den Anfang der Schau gestellt. Das ist eine programmatische Erklärung; und tatsächlich wirkt die Vorstellung des rastlos wirkenden Perfektionisten Muybridge erhellend beim Rundgang durch drei Etagen und 30 Jahre Konzeptkunst. Die weißen Kuben, LeWitts bevorzugtes Modellbaumaterial, sind inzwischen zum Inbegriff der Konzeptkunst geworden, auf deren kühle Oberflächen sich immer noch mühelos die üblichen Vorurteile projizieren lassen. Donald Judd und Frank Stella haben diese einmal selbst benannt: „Antihumanistisch, industriell und ausdruckslos“ sei die Konzeptkunst.

Vor dem Hintergrund der manischen Methode Muybridges allerdings relativieren sich die Vorwürfe an die vermeintlich eiskalten Rationalisten. Schon 1969 hatte LeWitt in seinen „Paragraphs On Conceptual Art“ notiert: „Irrationalen Gedanken sollte man absolut und logisch folgen.“ Die scheinbare Logik als Folge spontaner, auch irrationaler Ideen: das ist das Raster, dem die Strukturen LeWitts durch die Jahrzehnte folgen. So zeigt die Ausstellung, wie flexibel dieses Raster wirklich war und ist. Von den hölzernen Objektkisten der frühen 60er Jahre, den Wall Structures, über die endlos variierten Würfelmodule und „Serial Projects“ bis zu den monumentalen Ziegelsteinblöcken der 80er und 90er Jahre.

Noch die diagrammatischen Wandzeichnungen, von denen eine in der Weserburg exemplarisch ausgeführt worden ist, und die Bücher LeWitts folgen zwar dem Raster, stellen es zugleich aber auch immer wieder dar. LeWitt spricht entsprechend von „Buchsystemen“; und selbst hier entfaltet sich aus dem regelmäßigen Grundmuster alsbald ein allseits ausuferndes Chaos. Wenn LeWitt zum Beispiel in seinen „Photo-Grids“ (1977) die geometrischen Raster in der Architektur und Natur sucht, um sie abermals auf Rasterformat zurechtzustutzen und aneinanderzureihen. Oder, wenn er nur eine simple, abstrakte Zeichnung in ihrem Entstehungsprozeß zu erläutern versucht („The Location Of Eight Points“, 1974) – und dabei die Abgründe zwischen Bild und Schrift auftut: „The second point is located halfway between the first point and the midpoint of the right side ...“ und so weiter, endlos ausdruckslos. Das Konzept ist unbeschreiblich. „Wer die Kunst unserer Zeit verstehen will, muß hinter die Erscheinung sehen“, hat der Kritiker Clement Greenberg bereits 1958 zu den Konstruktionen der Konzeptkunst bemerkt. Wer die jüngere Kunst von LeWitt betrachtet, kann gerade an deren Erscheinung nicht einmal mehr vorbeisehen. Die Leichtbaumodelle der 60er und 70er Jahre, so scheint es nun in der Rückschau, waren tatsächlich Systeme ohne sinnfällige Referenz auf ikonographische Vorbilder. Dem schwelgerischen Ton der europäischen Avantgarde entsagten sie ebenso erfolgreich wie dem Pathos der abstrakten Expressionisten im eigenen Lande.

Doch mit dem Ausbau seines Systems ins Monumentale hat LeWitt offenbar einen Schritt zurück getan. Die äußere Erscheinung hat sich, klammheimlich, wieder mit Bedeutung aufgeladen. Die Strukturen sind wieder Skulptur geworden, die riesenhaft das menschliche Maß übersteigen. So liegt demnächst auf seiner gedachten und in Münster und Frankfurt teilweise realisierten Fluchtlinie aus deponierten Ziegelblöcken auch ein Bremer Monument: In dieser Woche beginnen die Bauarbeiten für eine ausgreifende Mauer, die LeWitt an der Spitze der Bremer Teerhof-Insel errichten läßt. Die Zickzackform folgt ganz den pittoresken Giebeln des nahe gelegenen Museums – vor allem ist auch sie, dem Gesetz des Systems folgend, unendlich fortsetzbar. Dieses vor- und damit ad absurdum zu führen, ist LeWitt längst gelungen; in ihrer nunmehr manifesten, permanenten Form aber sind diese Strukturen zunehmend schwerer erträglich. Thomas Wolff

Sol LeWitt: „Structures und Systeme in Buchform 1962–1993“; bis 15. Mai, Neues Museum Weserburg Bremen. Katalog 44 DM; Heft zu den Künstlerbüchern 12DM