■ Die Karlsruher Verfassungsrichter zur „Auschwitz-Lüge“
: Neue Markierungen

Welchen Stellenwert soll das Recht auf freie Meinungsäußerung im öffentlichen Leben einer Gesellschaft einnehmen? Wann ist die Grenze erreicht, wo es sich an anderen Grundrechten bzw. an den allgemeinen Gesetzen bricht? Wie und zu welchem Zeitpunkt sollen Staatsorgane diese Grenzen der freien Meinungsäußerung durchsetzen? Mit seiner gestrigen Entscheidung zur Behauptung von der „Auschwitz- Lüge“ hat das Verfassungsgericht nicht so sehr Neuland betreten, als vielmehr in einem bekannten Gelände die Markierungen neu gesteckt.

Die Münchner Behörden hatten es einer NPD- Veranstaltung mit dem bekannten „Revisionisten“ David Irving aufgegeben, zu Beginn auf die mögliche Strafbarkeit der These von der „Auschwitz-Lüge“ hinzuweisen. Indem das Verfassungsgericht diese Auflage guthieß, hat es die Prophylaxe, die Gefahrenabwehr, für rechtens erklärt. Es zog damit die Konsequenz aus der Tatsache, daß es bei Veranstaltungen dieses Typus nicht um die Diskussion geschichtlicher Sachverhalte geht. In der Propaganda der Rechtsradikalen stets wiederkehrende Begriffe wie „Auschwitz- Lüge“, „Gaskammermythos“ etc. verweisen vielmehr auf einen Kontext, der stets durch die Rassenideologie gebildet wird. Die Behauptungen der Rechtsradikalen zielen geradezu auf die Verletzung der Menschenwürde der Opfer – der Ermordeten wie derer, die überlebt haben. Die Münchner Behörde, so das Gericht, hat rechtens gehandelt, als sie von dem dringenden Verdacht ausging, auf der Versammlung würden strafbare Handlungen begangen werden. In dieser Annahme liegt das Neue des Urteils. Hingegen entspricht die Feststelllung der Verfassungsrichter, bei der „Auschwitz-Lüge“ handele es sich um eine „erwiesenermaßen unwahre Tatsachenbehauptung“ der ständigen Rechtsprechung. Dies war auch der Grund, warum der Bundesgerichtshof in seinem jüngsten Urteil zur „Auschwitz-Lüge“ die Verfahrensrüge zurückgewiesen hatte, es sei kein historischer Gutachter beigezogen worden. Der in Frage stehende Sachverhalt, so der BGH, sei „offensichtlich“.

Wie verhalten sich die Urteile der beiden Bundesgerichte zueinander? Es scheint, als widersprächen sie sich nicht. Aber in dem Tadel des BGH, das Mannheimer Gericht habe es unterlassen, den Angriff auf die „Menschenwürde anderer“ im Vortrag des „Revisionisten“ Fred Leuchter nachzuweisen, kommt eine gänzlich andere, nämlich naive und allzu restriktive Mentalität zum Ausdruck. Hätte der BGH die gleiche Haltung zur Praxis der Neofaschisten wie das Verfassungsgericht, er hätte aus den von Leuchter bzw. seinem Übersetzer gelieferten Stichworten die gleiche Bewertung gezogen wie das Gericht der Vorinstanz: Volksverhetzung. Christian Semler