Minderheitsregierung oder Neuwahlen in Tokio?

■ Neue Regierungskrise führt zu Glaubwürdigkeitsverlust der japanischen Politik

Tokio (taz) – Im Parlamentsbüro des neuen japanischen Premierministers Tsutomu Hata prangt noch immer das große Porträt seines politischen Ziehvaters Kakuei Tanaka, der Japan von 1972 bis 1974 regierte. Mag es also verwundern, wenn 20 Jahre nach dem Sturz Tanakas die Ära Hata mit den gleichen Einschüchterungs- und Erpressungsmanövern beginnt, für die Tanaka berühmt war? Freilich herrschte Tanaka noch uneingeschränkt über ein monolithisches Einparteiensystem. Unter Hata aber drohte die unfeine Regierungsart am Dienstag geradewegs ins erste große Debakel der seit acht Monaten amtierenden Regierungskoalition zu führen. Unerschütterlich hielten die Sozialdemokraten gestern an ihrer Entscheidung fest, aufgrund ihres brüsken Ausschlusses bei der Fraktionsbildung im Parlament die Regierung zu verlassen. Vergeblich bemühte sich Hata während des ganzen Tages um ein Gespräch mit dem sozialdemokratischen Vorsitzenden Tomiichi Murayama und stand am Abend vor der völlig unerwarteten Alternative, entweder heute ein Minderheitskabinett aufzustellen oder zwei Tage nach seiner Wahl zum Premierminister bereits den Rücktritt einzureichen. Letzteres forderte vor allem die oppositionelle Liberaldemokratische Partei (LDP).

Tatsächlich nahmen Liberaldemokraten und Sozialdemokraten gestern schon erste Gespräche über eine Zusammenarbeit in der Opposition auf. Das Bündnis der alten Kräfte gegen die jungen Regierungsparteien könnte auf Neuwahlen nach dem alten Wahlsystem bestehen. Gleichzeitig war auch eine Stabilisierung der Koalition nicht ausgeschlossen. Emsig konsultierten die Helfer Hatas die ihnen wohlgesonnenen Parlamentsabgeordneten der Opposition, um sie zum Eintritt in die Regierungsfraktion zu bewegen. Doch fehlten Hata gestern 69 Stimmen für eine Mehrheit im Unterhaus. Mit 206 Mandaten verfügt die LDP nun sogar über mehr Abgeordnete als die Regierungsfraktion mit 187 Mandaten. Die Sozialdemokraten und ihre Verbündeten zählen 87 Sitze.

Einer Minderheitsregierung räumten Beobachter kaum Überlebenschancen ein. Zwar versprachen die Sozialdemokraten, dem bereits verzögerten Staatshaushalt für das seit April laufende Finanzjahr noch zuzustimmen. Damit räumten sie Hata eine dreiwöchige Frist für die Budgetdebatte im Mai ein. Darüber hinaus gehende Vorhaben drohen jedoch zu scheitern. Gestern sprachen die japanischen Medien von einer internationalen Glaubwürdigkeitskrise der japanischen Politik.

Indessen birgt das scheinbar unüberschaubare Chaos nach der Wahl Hatas auch Elemente einer neuen politischen Ordnung. Die am Montag gegründete „Neue Reform“-Fraktion vereinigt unter Hatas Führung die junge Generation konservativer Politiker. Viele von ihnen haben die Liberaldemokraten verlassen, weil sie gegen das Senioritätsprinzip in der Partei opponierten. Heute sind sie auf einen neuen Liberalismus eingeschworen. Ebenso einig ist man sich über ein stärkeres militärisches und weltpolitisches Engagement. Die verbliebenen Konservativen in der LDP treten dagegen in ihrer Mehrheit für ein Festhalten an der japanischen Friedensverfassung und der bisherigen Sicherheitspolitik ein.

„Die japanische Politik durchläuft im Moment eine Zeit tiefgreifender Veränderungen, in der Umbrüche unvermeidlich sind“, analysierte gestern der Politologe Kenzo Uchida. Die Zentralfigur innerhalb des Umbruchs ist jedoch nicht Hata selbst, sondern sein jüngster Mentor Ichiro Ozawa, Generalsekretär der Erneuerungspartei. Ozawa hatte bereits vor zwei Jahren, als er noch führendes Mitglied der Liberaldemokraten war, ein Drehbuch für die Reorganisation der japanischen Politik in ein stabiles Zweiparteiensystem nach amerikanischem Modell geschrieben. Bisher gleicht die politische Entwicklung in erstaunlichem Maße den jeweiligen Vorgaben Ozawas. Ozawas Einfluß reicht in alle Parteien. Die beste Antwort auf die Rollenverteilung an der Regierungsspitze gab Hata vor einigen Monaten: „Ozawa ist der Regisseur, und ich bin sein Schauspieler.“ Schon vor zwanzig Jahren gehörten Hata und Ozawa gemeinsam der Fraktion von Kakuei Tanaka an. Georg Blume