Die rote Karte für Berlin

Dem Berliner Profifußball droht ein Super-GAU: Wenn alles planmäßig verläuft, verschwindet die Stadt aus dem „Who is Who“ des deutschen Profifußballs  ■ Von Jürgen Schulz

Lautes Rülpsen war vor einem Jahr noch die zurückhaltendste Antwort, wenn man an Berliner Stammtischen nach den Perspektiven des hiesigen Profifußballs fragte. „Schlimmer geht's nimmer!“ lautete das Credo der Preußen. In der Tat: Hertha BSC, selbsternannter Favorit der Zweiten Liga, trottelte mal wieder von einer Pleite in die andere. Der Aufstieg in die Eliteklasse wurde weit verfehlt; der 1. FC Union hingegen, „everyone's darling“ aus Ostberlin und sportlich für die Zweitklassigkeit qualifiziert, durfte wegen einer gefälschten Bankbürgschaft erst gar nicht ins bezahlte Lager aufrücken. Noch heute befaßt sich die Staatsanwaltschaft mit dem kriminellen Gebaren der Köpenicker.

Der Nutznießer hieß ausgerechnet Tennis Borussia, der vornehme Club aus Eichkamp, an dessen Spitze mit Präsident Jack White ein betuchter Tycoon aus der Popbranche steht. Mit den Millionen des Horst Nußbaum, wie J. W. bürgerlich heißt, und einer spielstarken Oberligaelf schienen den „Veilchen“ tatsächlich alle Möglichkeiten für einen Durchmarsch nach oben offenzustehen. Zwölf Monate später dribbeln Berlins bezahlte Ballkünstler jedoch unmittelbar in den Super-GAU. Wenn alles schiefgeht – und einiges deutet darauf hin – muß die Hauptstadt in der nächsten Spielzeit womöglich ganz ohne einen Proficlub auskommen!

Denn Hertha BSC jagt seit Monaten das hintere Mittelfeld der zweiten Bundesliga vor sich her und ist bloß durch eine imposante Siegesserie vor dem Abstieg zu retten. Sechs Trainer hat die „alte Dame Hertha“ allein in den letzten drei Jahren vernascht. Ohne Erfolg!

Die „Veilchen“ lassen ihre Köpfe bereits seit Wochen hängen. Die Lage in Eichkamp ist aussichtslos. Die besten Spieler haben es eingesehen und sind sich längst mit anderen Clubs handelseinig geworden. In Fachkreisen munkelt man, daß selbst eine saftige Geldspritze von angeblich 13 Millionen Mark (!) in den letzten anderthalb Jahren das Spielvermögen der Lila-Weißen nicht entscheidend steigern konnte. Ihre Heimspiele tragen die Charlottenburger unter Quarantänebedingungen aus: vierstellige Besucherzahlen sind mittlerweile eine Rarität. Vielleicht liegt es auch daran, daß Präsident White in der Halbzeitpause die Trauergemeinde mit Tonkonserven seines Schützlings David Hasselhoff zu quälen pflegt?!

„Die beiden Berliner Vereine aus der zweiten Liga wollen wohl den Startschuß zur neuen Amateur-Regionalliga nicht verpassen“, witzelte ARD-Sportschau- Moderator Hagen Boßdorf über den einträchtigen Tiefflug der städtischen Kellerkinder. Nur die Stammtisch-Brüder lassen den Kopf nicht hängen. Wie können Hertha und Tennis Borussia noch an die Tabellenspitze gelangen? Einfach die Zeitung umdrehen!

Galgenhumor ist Aspirin für Berlins geschundene Kicker-Seelen. Wenn Hertha und Tennis Borussia tatsächlich in der Anonymität der neugegründeten (drittklassigen) Regionalliga verschwinden sollten, fällt die Stadt hinter das Spielniveau von Metropolen wie Meppen, Homburg/Saar oder Jena zurück. Dann gastieren womöglich statt namhaften Größen wie dem VfL Bochum, 1860 München oder Hansa Rostock bald nur noch Nobodys wie der Bischofswerdaer FV, Optik Rathenow oder Altmark Stendal an der Spree.

Die Hoffnungen, den Sturz der Hauptstadt in die tiefste Provinz gerade noch zu vermeiden, ruhen nun auf dem 1. Union Berlin. Obwohl nach der „Bürgschaftsaffäre“ des letzten Jahres das Überleben des Traditionsvereins aus der Wuhlheide am seidenen Faden hing, hat sich „Eisern Union“ auf dem grünen Rasen nicht beeindrucken lassen. Die Unioner stehen (schon wieder) als Oberliga- Champion fest. Aber erhalten sie auch die Lizenz zum Berufskick?

Es spricht mehr dagegen als dafür. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) beäugt voller Mißtrauen die fieberhafte Suche der Köpenicker nach neuen Geldquellen. Mehrere Millionen Mark an Bürgschaften sollen die Berliner in der DFB-Zentrale vorlegen – die kalte Rache des DFB für das dreiste Bubenstück des Vorjahres hat den 1. FC voll erwischt.

Union-Präsident Detlev Bracht, ein Bauunternehmer aus Charlottenburg, gab sich in jüngster Zeit betont kämpferisch – fast wie seine Jungs in den kurzen Hosen: „Wir können es packen“, „Es wird hart“, „Wir müssen kämpfen“. Wir werden sehen!

Einen anderen Joker hat Berlin nicht mehr im Ärmel. Ein Trost bleibt für den Fall der Fälle in der dann profiabstinenten Fußballwüste: Im neuen Amateuroberhaus, der Regionalliga Ost, gäbe es Lokalderbys bis zum Abwinken. Mit dem FC Berlin, den Reinickendorfer Füchsen sowie Türkiyemspor haben sich schon jetzt mehrere Clubs so gut wie sicher für diese neue Klasse qualifiziert. Der Spandauer SV kann noch dazustoßen. „Die wollen doch gar nicht in die zweite Bundesliga aufsteigen“, argwöhnte neulich ein Vertreter des Berliner Fußball-Verbandes, „die Regionalliga Ost bringt eben wesentlich mehr Lokalkolorit ins Spiel. Das spart eine Menge Reisekosten.“ Das Argument, die Berliner Mannschaften könnten aufsteigen, wenn sie nur wollten, stimmt freilich nur bedingt. Türkiyemspor etwa, derzeit abgeschlagener Zweiter hinter dem 1. FC Union, scheute das finanzielle Risiko der Bundesliga. Rund um das Katzbachstadion scheint die Euphorie der Gründerjahre, als Zigtausende Fans den Spielkünsten des türkischen Teams zujubelten, längst verflogen zu sein. Nur noch selten macht sich die einst überschwengliche Stimmung auf den Zuschauerrängen breit. „Wir wollen den Club nicht in ein gewagtes Abenteuer stürzen“, begründete der Vorstand seine aktuelle Absage an das Berufsfußballertum.

Die Reinickendorfer Füchse sowie der FC Berlin scheiterten wiederum an ihren allzu mageren Leistungen der letzten Wochen. Überdies packen einige ihrer talentiertesten Akteure die Koffer und ziehen wieder mal an die Fleischtröge westdeutscher Großclubs wie Leverkusen und Dortmund.

Die Westberliner Clubs (Hertha?, Tennis Borussia, Füchse, Türkiyemspor, Spandau?) werden sich wohl in der nächsten Saison an eine neue Umgebung gewöhnen müssen. Demgegenüber könnten der FC Berlin aus Hohenschönhausen sowie Union (falls sie vom DFB abgeschmettert wird) ein Wiedersehen feiern mit alten Kampfgefährten aus vergangenen DDR-Oberligazeiten. Ab Spieljahr 1994/95 treffen die Ostberliner „endlich“ (so die Fans) wieder auf Aue, Zwickau, Brandenburg, Erfurt, Sachsen, Leipzig oder Magdeburg. Schon macht in der Sportpresse das Schlagwort von der „Fußball-Ostalgie“ im Amateurfußball die Runde.

Noch ist Berlin nicht ganz verloren! Wer partout auf Erstliga-Raffinesse steht, dem seien die Damen von Tennis Borussia empfohlen. Die weiblichen „Veilchen“ blühen noch in der Erstligasonne der Damen-Bundesliga. Nur hat es bislang kaum jemand wahrgenommen am Fußballstammtisch.