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Mit Mittelwerten experimentiert

„Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben“ von Tankred Dorst am BE  ■ Von Petra Kohse

Es war einmal ein sehr schönes, junges Mädchen, dessen Vater in Geldnot geraten war. Deswegen verspricht er seine Tochter dem reichsten Mann der Stadt. Erst war das Mädchen etwas trotzig, aber weil sie den Vater so verzweifelt sah, nahm sie den reichen Mann zum Gemahl und tat alles, was ihr geheißen ward. Sie gebar ihm einen Sohn und gab sich alle Mühe, ihn zu lieben.

Tankred Dorsts (unter Mitarbeit von Ursula Ehler entstandenes) Stück, das im Untertitel ein „Versuch über die Wahrheit“ genannt wird, hat die Exposition eines bösen Märchens. 1992 uraufgeführt, ist es jetzt als Koproduktion mit dem Schauspiel Bonn am Berliner Ensemble zu sehen. Peter Palitzschs Bühnenübersetzung läßt über die Neuzeitlichkeit keinen Zweifel: Sven-Christian Habich ist ein schmieriger Bankrotteur im Smoking und Tanja von Oertzen als Tochter Julia eine durchaus reife und selbstbewußt wirkende Frau mit wasserstoffblondem Kurzhaarschnitt und knappem orangefarbenen Cocktailkleid, die gar nicht so recht in das mit teurem Spielzeug vollgepfropfte Kinderzimmer passen mag. Die Einsicht in die ökonomische Notwendigkeit ist ihr schon zur zweiten Natur geworden, sie gibt Fernando Krapp ihr Jawort.

Eine Frau wie sie würde natürlich niemals Volker Spengler lieben, der den Fernando Krapp als aalglatten Dickwanst mit fisteliger Krächzstimme gibt. Aber außer dem Geld hat er etwas, dem sie sich nicht entziehen kann: Wahrheit und Wirklichkeit ist für ihn stets das, was ihm genehm ist. Vielleicht, um Macht über diesen Mächtigen zu bekommen, vielleicht aus unerfüllten romantischen Gefühlen gibt sich Julia jedoch dem Grafen (Karsten Gaul) hin und gesteht es Fernando, als er seinerseits ein Verhältnis offen zugibt. Anstatt jedoch Eifersucht zu zeigen, kauft dieser den Grafen, stellt seine Frau als Geistesverwirrte dar und steckt sie ins Irrenhaus. Weil nicht sein kann, was nicht sein soll.

Bei Palitzsch wird das alles kraß chargierend ausgestellt, mit ironischem Pathos verüberdeutlicht. Die Brecht-Gardine rauscht hin und her, knapp und zielgerichtet wird gesprochen, die Versuchsanordnung läuft ab wie von selbst, vom Schnürboden hängen Zahlen herab, die den Stand des Experiments numerieren. Die Ärzte (Renate Becker und Walter Hess) wissen natürlich Bescheid, bewegen sich aber streng im Koordinatensystem, das in dieser Szene auf die Bühne projiziert ist. Und da gibt es eben nur a oder -a. Natürlich ist Julia nicht verrückt, aber wenn die Ärzte sie nicht bei sich behalten, bringt Krapp seine Frau vielleicht um, und die von der Fernando- Krapp-Stiftung finanzierte Anstalt geht pleite. Also bleibt Julia. Sie sitzt in Zwangsjacke auf dem Topf, und dort wird ihr sonnenklar, welche erbärmliche Rolle ihr Geliebter spielte, als er sie vor dem Gatten verleugnete. Sie, die einen starken Mann will, schwenkt um auf Krapps Kurs.

Hier aber wird Palitzsch plötzlich moralisch. Die „bekehrte“ Julia, die den vor Pein sich windenden Grafen um Verzeihung bittet, da sie ihn öffentlich kompromittierte in ihrem „Wahn“, steht unter starken Medikamenten, von Oertzen lallt ein bißchen und schwankt beim Laufen. Die durchsichtige Bluse hat ein Loch an der Stelle des Oberarms, an der ihr Infusionen verabreicht wurden, durch den Verband sieht man Blut. Sie, die doch auch Täterin ist, indem sie die Wahrheit ihrem Lebensentwurf anpaßt, wird bei Palitzsch zum Opfer. Hier fällt er hinter seine Entscheidung, die Julia reif zu besetzen, weit zurück. Auch Dorsts Julia stirbt am Ende. Aber könnte man sich nicht noch Jahrzehnte einvernehmlichen Wohllebens zwischen der vorletzten und letzten Szene denken? Krapp stirbt mit ihr. Spengler bleibt kühl, als er seinen Selbstmord referiert – sein konstruiertes Leben fällt in sich zusammen, wenn ein Pfeiler morsch ist. Er liebte sie. Als Eigentum, als Spiegel.

Klarer als Palitzsch kann man kaum zeigen, wie korrumpierbar die Welt, wie manipulierbar die Wahrheit ist. Aber dürrer auch nicht. Das spult sich herunter, ist komisch in Momenten, in seiner zeigefingrigen Überlegenheit im Ganzen aber langweilig. Einen so eindeutigen Versuchsverlauf kriegt man nur hin, wenn man unzulässigerweise ausschließlich mit Mittelwerten arbeitet.

„Fernando Krapp...“ von Tankred Dorst und Ursula Ehler; Regie: Peter Palitzsch, Ausstattung: Karl Kneidl, Musik: Dirk Mündelein. Nächste Vorstellung am 30.4., Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht- Platz 1, Mitte.

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